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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Bis dahin hatte sie ihn gefürchtet; heute haßte sie diese vier engen eisernen Wände, die ihr Ich, ihr warmschlagendes Herz aus dem Dasein löschten und sich selbst an die Stelle eines jungen Mädchens mit idealen Hoffnungen und Wünschen und tiefer Sehnsucht nach wahrem, stillem Lebensglück drängten. Wer auch kam und um ihre Hand freite, er liebäugelte mit dem eisernen Ungethüm, das sich an ihre Fersen heftete; jeder Blick, der begehrend auf sie fiel, galt der Millionärin, jeder warme Händedruck dem Papiergespenst, „das immer neue Summen aus der Welt an sich zog.“ Und das bedachte der Herr Commerzienrath von Römer auch – der reiche Mann wollte noch reicher werden. Wahrlich, heimtückischer war das Nagen des Wurmes auch nicht, das allmählich von innen eine köstliche Frucht verzehrte, als dieser ewig bohrende, das Selbstgefühl vernichtende Gedanke, den Flora boshaft lachend in die Seele der jungen Schwester geschleudert.

Und dort unten, an der Basis des Thurmes gähnte die dunkle Kellerluke, wo die kostbaren Weine des reichen Mannes feurig gegen die einzwängenden Faßdauben und Flaschen pochten. Der Commerzienrath hatte erst kürzlich wieder die Präsidentin und seine drei Schwägerinnen hinuntergeführt. Die Eisenbahn hatte wieder einmal zahllose Fässer und Körbe herangerollt, und sie alle fanden Platz in den mächtigen Gewölben, die ihre Steinbögen weit und tief in den Leib des Hügels hineintrieben.

Es wehte eine herrlich kühle, reine und trockene Luft da unten; die Steinfließen des Fußbodens blinkten wie polirt; kein Staubkörnchen, nicht das dünnste Spinnwebfädchen hing an den Steinrippen, die sich oben zur Kuppel kreuzten, und das Kellergeräth, das Trinkgeschirr, die grünen Römer, die Champagnergläser, Alles funkelte und gleißte; man sah, daß hier dienende Hände ohne Unterlaß fegten und spülten, strenger und peinlicher als im glänzenden Salon. Und da, wo die edelsten Sorten, Faß an Faß, lagerten, wo nur ein schwacher Schein des Tageslichtes hoch oben an der Gewölbdecke dämmerte, da standen auch in der dunkelsten Ecke die zwei Tonnen mit dem historischen Schießpulver, so frisch und unversehrt, daß Käthe neulich lachend gemeint hatte, die ehrwürdigen Reliquien würden wahrscheinlich von Zeit zu Zeit erneuert, wie der berühmte Tintenfleck auf der Wartburg. Diese Ecke aber war und blieb ihr unheimlich; sie begriff nicht, wie der reiche Mann sie Tag und Nacht unter seinen Füßen dulden konnte; und wenn sie sich auch nur die gespenstige Ahnfrau der Baumgarten mit umherleuchtender Fackel hin- und herirrend dachte, dann sträubte sich ihr das Haar.

Ihr Blick stieg an den geschwärzten Quadern empor – ein einziger Funke, der von dem Kellerlicht wegsprang – und das alte wie für die Ewigkeit gekittete Thurmgefüge barst auseinander, und Alles, was Menschenhände an Schätzen in dem Mauerviereck gierig zusammengerafft, es stürmte, in Atome zerstückelt, gen Himmel. Auch die eisernen Wände zersprangen, und die Papiere, an denen der Fluch der Bedürftigen hing, zerstoben und zerflatterten nach allen Winden.

Dem jungen Mädchen graute vor der eigenen Seele, durch die der Gedanke huschte, es möchte so sein, auf daß ihr Ich erlöst werde von der goldenen Maske, nach der die Gelddurstigen strebten. Entsetzt vor dem Bilde der Zerstörung, das die eigene Phantasie heraufbeschworen, hatte sie die Augen bedeckt, und nun ließ sie die Hände sinken und sah tiefaufathmend in die blaugoldigen Lüfte, in welchen, hoch über dem Thurme, Henriettens Taubenschaaren kreisten, und dort vor dem Fenster des scheinbar schiefhängenden Mauerstückes, das auf seinem Rücken den letzten herrlichen Colonnadenrest trug, hing der Amselbauer des dort hausenden Dieners. Rosmarin und Goldlack standen auf dem Sims, und darüber her fiel eine Gardine maiengrüner und maienduftender Hopfenranken. Das Vögelchen sang aus allen Kräften in das Gelärm der flügelklatschenden Tauben hinein, und den grasigen Abhang herab waren geräuschlos die Rehe gekommen und äugten über das Wasser hinweg nach dem großen schlanken Menschenkind, das eben so häßlich, so verzweiflungsvoll geträumt hatte.

Die Rehe und die Tauben kannten sehr gut das junge Mädchen, das stets in den Taschen Brod und Körner mitbrachte, aber heute hatte sie nur ein stummes Abschiedwinken mit der Hand für sie, ob auch das Taubenvolk sich jetzt auf den Rasen niederstürzte und seine Kecksten recognoscirend und bettelnd auf die Brücke vorausschickte. Käthe ging weiter am Flußufer hin, und bald mischte sich ferner Kinderjubel mit dem Rauschen des Wassers. Die kleinen Schülerinnen der Tante Diakonus spielten noch im Garten, und trotz der tiefen Niedergeschlagenheit, trotz der Seelenschmerzen, deren Wesen und Ursprung sie zum Theil nicht einmal begriff, weckten diese Laute ein warmes Freudengefühl in Käthe. Ach nein, die kleinen Geschöpfe da drüben mit den unschuldigen Augen und den jungen fröhlichen Herzen sahen nicht die Millionärin in ihr; sie wußten noch nichts von dem eisernen Geldschranke; sie nahmen unbefangen und dankbar das gereichte Vesperbrod und fragten nicht, wer es bezahlt habe. In den jungen Seelen lebte sie als die Tante Käthe, um deren Liebesbeweise man sich stritt und zankte, welcher man sehnsüchtig entgegenlief und in deren Ohr das ängstliche Bekenntniß kleiner Vergehen oder die weinende Klage über ein erlittenes Unrecht vertrauensvoll geflüstert wurden. Nein, dort wurde sie geliebt, aufrichtig geliebt um ihrer selbst willen.

Sie verdoppelte ihre Schritte; je näher sie dem Hause kam, desto mehr wurde ihr zu Sinne, als kehre sie heim aus der Irre. Dort trat die Magd zwischen den zwei gewaltigen Pappeln hervor, die zu beiden Seiten der Brücke standen, und wanderte, den Henkelkorb am Arme, nach der Stadt, um die Abendeinkäufe zu machen – das war auch eine treue Seele, die nicht um des Geldes willen an der Herrschaft hing; ihr gutmüthiges, offenes Gesicht gehörte so recht in das gemüthliche Heimwesen am Flusse.

Von den Kindern war nichts zu sehen, als Käthe über die Brücke kam – sie spielten hinter dem Hause; dafür machte sich der Haushahn um so breiter auf dem Rasenplatze; er schlug mit den farbenglänzenden Flügeln und krähte, daß es weit über das Feld hingellte; die Hühner unterbrachen ihr Scharren und schielten mit schiefgehaltenem Kopfe nach der Mädchenhand, die ihnen oft Futter hinstreute, und der Hofhund begnügte sich mit einem begrüßenden Schwanzwedeln. Er war jetzt gut Freund mit Käthe, bellte sie nie an und hatte sich mit der Zeit so viel Bildung angeeignet, die gelbe Henne nunmehr auch unangefochten vor seiner Nase hinspazieren zu lassen.

Die Hausthür stand weit offen, und die Magd war ausgegangen; mithin befand sich die Tante im Hause. Käthe stieg eben die Stufen seitwärts hinauf, als sie im Flure den Doctor sprechen hörte. Wie festgewurzelt blieb sie stehen.

„Nein, Tante, der Lärm belästigt mich. Meine Kopfnerven machen mir augenblicklich zu schaffen,“ sagte er. „Wenn ich mich für Momente in den grünen Winkel hier flüchte, so will ich ausruhen; ich brauche Ruhe, Ruhe.“ – War er es wirklich, der gelassene Mann, in dessen Stimme so viel nervöse Ungeduld, so viel zitternde Pein mitsprach? „Es ist ein Opfer, das ich von Dir verlange, Tante, ich weiß es, aber trotz alledem bitte ich Dich dringend, diese Unterrichtsstunden für die wenigen Monate, die ich noch hier sein werde, auszusetzen. Für diese Zeit will ich herzlich gern ein Zimmer in der Stadt miethen und eine Lehrerin bezahlen, damit Deinen Schülerinnen kein Nachtheil erwächst –“

„Um Gott, Leo, Du brauchst ja nur zu wünschen,“ unterbrach ihn die Tante erschrocken. „Wie konnte ich denn ahnen, daß Dir dieser Verkehr plötzlich so unangenehm ist? Nicht ein Laut mehr soll Dich stören – dafür lasse mich sorgen! Mich dauert nur Eines dabei – Käthe –“

„Immer dieses Mädchen!“ brauste der Doctor auf, als verliere er bei dieser leisen Klage den letzten Rest von Geduld und Selbstbeherrschung. „An mich denkst Du nicht.“

„Aber ich bitte Dich, Leo, was ficht Dich an? Ich glaube gar, Du bist eifersüchtig auf die Liebe und Zuneigung Deiner alten Tante,“ rief die alte Frau erstaunt und ungläubig lachend.

Er schwieg; das junge Mädchen draußen hörte, wie er einige Schritte nach der Hausthür machte.

„Meine arme Käthe! Es ist völlig undenkbar, daß ihr geräuschlos wohlthuendes Walten, ihre ganze Erscheinung irgend einem Menschen auf Gottes Erde unangenehm sein könnte,“ sagte die Tante, leisen Trittes ihm nachgehend. „Ich habe noch kein Mädchen gesehen, das so prächtig Kindesunschuld und Frauenwürde, Verstandesschärfe und Innigkeit des Gemüthes in sich vereinte. Das zieht mich unwiderstehlich zu ihr hin, und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 297. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_297.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)