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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

ist, in Europa erster Classe zu fahren, reist also in den Vereinigten Staaten billiger, selbst wenn er Saloon- und Sleeping-Cars benutzt. Man ersieht hieraus, wie in der Republik der reiche Mann begünstigt ist, der arme aber als nicht vorhanden betrachtet wird. Ein Deutsch-Amerikaner, den ich auf diesen Uebelstand aufmerksam machte, warf mir ein: „O, hier reist nur Der, welcher Geld hat,“ aber wer möchte ernstlich eine solche anmaßende Behauptung vertheidigen!

Man fährt in den Vereinigten Staaten viel langsamer als in Europa, meist nur mit der Geschwindigkeit unserer gewöhnlichen Personenzüge; Courierzuggeschwindigkeit findet man nur zwischen Chicago und New-York und auf den Linien, welche die großen Städte des Ostens verbinden. Jagdzugsgeschwindigkeit würde überhaupt in den Vereinigten Staaten bei dem mangelhaften Zustande der Bahnen nicht anwendbar sein können. Bei meistens eingleisigen Bahnen, hat man sich bemüht, so gut wie möglich zu nivelliren, und auf den gekiesten Boden die Schwellen gelegt. Da man diese bedeutend dichter aneinander legt als bei uns, so gewährt dies eine verhältnißmäßig größere Sicherheit beim Fahren.

Aber Wärterhäuschen sucht das Auge vergeblich. Wie in Aegypten hat man Bahnwärter als ganz überflüssig erkannt. Nirgends sind die Uebergänge durch Barrieren abgeschlossen, in den Städten erst recht nicht; der Amerikaner würde hierin einen Eingriff in die Freiheit der Circulation erblicken. Höchstens findet man eine englische Warnung: „Gebt Acht auf den vorbeifahrenden Zug!“ oder dergleichen.

Bei der geringen Frequenz der Reisenden – von den Hauptstädten gehen nach den Hauptstädten des Tages nur zwei Züge – würde auch eine größere Anzahl von Beamten, ein größerer Aufwand im Eisenbahnmaterial ganz unmöglich sein, weil die Directionen damit nicht ihre Auslagen erschwingen könnten. Man reist in Amerika viel weniger als in Europa. Während in Europa die Eisenbahnen hervorgerufen werden durch das Bedürfniß, Städte und Ortschaften miteinander zu verbinden, baut man in Amerika und namentlich im Westen des Landes Bahnen, um Ortschaften zu gründen, um Verkehr zu schaffen und um ganze Landschaften zu erschließen. Aber auch die angebliche Eisenbahnentwickelung, was Länge in Meilenzahlen anbetrifft, beruht zum Theile in den Vereinigten Staaten auf Fiction, da die meisten Bahnen eingleisig sind. Die New-Yorker Buffalobahn stellt sich selbst immer als ein Weltwunder hin, „weil sie in der ganzen Welt die einzige viergleisige sei“. Uns Europäern, deren Bahnen durchgängig zweigleisig sind, und die wir viele vier-, ja sechs- und achtgleisige Bahnen haben, kommt so etwas höchst komisch vor.

Auch hier enthalte ich mich, über Frachtenbeförderung zu schreiben; es ist allgemein bekannt, wie in den Vereinigten Staaten die ganze menschliche Gesellschaft durch die einzelnen Eisenbahngesellschaften in Schach gehalten wird. Die Frachtsätze sind hier höher als in irgend einem anderen Theile der Welt. Aus Vorstehendem wird aber der Leser haben entnehmen können, daß, wenn auch manche Einrichtung in den Vereinigten Staaten im Eisenbahnwesen besser ist als in Europa, doch in vielen Dingen unsere europäischen Betriebsmaßregeln den Vorzug verdienen.




Die holde Scham.


Das Erröthen in seiner seelischen und körperlichen Entstehung.


Menschen von Gefühl werden sich von dem Ausspruche des alten Humoristen Hippel: nächst der Morgen- und Abendröthe sei die Schamröthe das schönste Roth von der Welt, sicher nicht befriedigt finden, Diejenigen zum Mindesten, denen einst die Gluth der Wangen der Geliebten früher noch als ihr Mund verkündete, daß sie ihr nicht gleichgültig seien, werden die Schamröthe sogar noch schöner finden als das Erglühen der kommenden und scheidenden Sonne und es in diesem Punkte mit Petrarca halten, wenn er von dem Erröthen seiner Laura sagt:

So schön sah ich den Morgen nimmer strahlen,
Wenn kein Gewölk den Himmel überzogen,
Als bei dem Keimen meiner süßen Qualen
Ihr Antlitz glüh’nde Röthe überflogen,
Der, was ich schön auf Erden auch erwogen,
Nichts gleichkommt – und ich liebe nicht zu prahlen.

Nicht weniger entzückend erscheint uns bei gleicher Gelegenheit die liebliche Verwirrung des Geistes, welche dieses unfreiwillige Auflohen einer bis dahin vielleicht sorgsam im innersten Herzen verborgenen Empfindung begleitet und sich in ungenügender Antwort genügend verräth, ferner das hastige Athmen und stürmische Klopfen des Herzens, endlich die Schüchternheit der vor Erregung leuchtenden Augen, welche nach jedem kühnen Aufschlage immer wieder schnell zum Boden oder zur Seite abirren. Aber auch ganz von dem Parteiurtheile des Urhebers so zarter Empfindungen abgesehen, wie viel wohlthuender berührt Jeden von uns z. B. bei den an vielen Orten noch immer öffentlichen Preisvertheilungen an Schüler der Anblick eines über seine Belobigung tief erröthenden Jünglings, als der kecke Rundblick eines anderen, welcher befriedigt beobachtet, ob auch alle Leute der Stadt seinen Triumph gewahren!

Wenn nun jene Ansicht der Tochter des Aristoteles, Pytheas, daß die Schamröthe die schönste Gesichtsfarbe sei, die man sich denken könne, im Rathe der Poeten einstimmig angenommen ist, so wird im Kreise der Theologen und Philosophen nicht weniger eifrig einer andern Behauptung beigestimmt, daß nämlich in diesem Verräther der inneren Empfindung, welcher sich ebenso schwer wie das Gewissen zum Schweigen bringen läßt, ein erhabenes Naturgeheimniß verborgen sei, daß die göttliche Abkunft des Menschen in dieser zarten, allen Thieren versagten Seelenregung am unverkennbarsten zum Ausdrucke komme; daß das Schamgefühl, mit einem Worte, ein göttliches Geschenk sei, wenn es die Bibel auch immerhin erst durch das Kosten verbotener Frucht in der Menschenbrust erweckt werden läßt. Selbst ein Arzt, Dr. Burgeß, der vor etwa vierzig Jahren dieser Erscheinung zum ersten Male zergliedernd näher getreten ist und ein besonderes Buch über die Physiologie der Scham geschrieben hat, meinte, daß dieser im unverdorbenen Menschen nicht niederzukämpfende und bei dem Versuche dazu nur erstarkende Verräther dem Geschöpfe vom Schöpfer als eine Art Talisman, als ein Hemmniß, seine Gebote ungescheut zu übertreten, eingepflanzt sei.

Allein, wenn wir der Sache näher treten, so muß uns schon der Umstand in Zweifel versetzen, daß ein und dieselbe Erscheinung bald den Abglanz der Unschuld, bald das Kainszeichen der Schuld vorstellen soll, und wahrlich, der Untersuchungsrichter würde übel fahren, welcher von dem Erröthen eines Menschen bei irgend einer Anklage auf sein Schuldbewußtsein schließen wollte. Der Unschuldige erröthet, wenn ihm eine schwere Anklage in’s Gesicht geschleudert wird, leichter, als der Schuldige, der sich solche „Kindereien“ in der Regel längst abgewöhnt hat, und meistens sind es die allerleichtesten Vergehen, Schulbubenstreiche, Etiquettenfehler etc., die sich bei ihrer Entdeckung in den allertiefsten Purpur kleiden.

Wir ersehen hieraus, daß diese Farbenerscheinung durchaus nichts mit einem für unfehlbar geltenden Gewissen zu thun hat, daß sie eben nur eine innere Erregung kund macht, die bald durch bloße Schüchternheit, bald durch Liebe, Theilnahme (wenn wir für Andere erröthen), durch Unschulds- oder Schuldbewußtsein, durch Bescheidenheit, Stolz und manche andere Gemüthsbewegungen erweckt werden kann. In allen den unzähligen Fällen aber, in denen der Mensch zu erröthen pflegt, läßt sich ein und derselbe sehr wenig überirdische, sondern vielmehr sehr weltliche Grund als letzte Ursache der inneren Erregung nachweisen, nämlich die Rücksichtsnahme auf unsere Beurtheilung durch Andere. „Was wird die Gesellschaft dazu sagen, daß du dich so furchtbar ungeschickt benimmst?“ heißt die fixe Idee des Schüchternen, die ihn aus der Purpurtinte nicht herauskommen läßt. „Was sollen die Leute dazu sagen, daß du hier so über Gebühr gelobt wirst?“ ist der Gedanke des Bescheidenen, wenn er erröthet. „Was muß dein Nebenmensch von dir denken, daß er dir eine solche Schlechtigkeit nur zutrauen kann?“ lautet der höchst beunruhigende Gedanke des im Gefühle seiner Unschuld Erröthenden. Die geistige Unruhe also, die uns beim unumgänglichen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 217. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_217.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)