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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

No. 12.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Im Hause des Commerzienrathes.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Käthe ging schleunigst weiter. Jetzt durchschüttelte Eiseskälte ihren Körper, und das starke Mädchen mit dem sonnenhellen Geiste und den kerngesunden Nerven überschlich ein wunderliches Grauen vor der Einsamkeit, in der sie wandelte, vor dem kraftlosen Licht der bleichgoldenen Sichel am Himmel und dem monoton gurgelnden Gemurmel der vorbeischießenden Flußwellen. Hinter dem Küchenfenster sah sie die Tante neben der blanken zinnernen Küchenlampe sitzen und Gemüse für den morgenden Mittagstisch putzen – ein milder Gegensatz zu der bewegten Scene im Krankenzimmer. So friedlich und beschwichtigend das Bild auch war, dahinein durfte sie sich mit der fieberhaften Spannung in Seele und Körper, mit ihrer Angst vor dem Kommenden nicht wagen; sie hätte ihren erregten Zustand nicht verbergen können vor den klaren Augen der alten Frau.

Die Hausthür stand noch offen, die der Küche aber war geschlossen. Käthe schlüpfte auf den Zehen durch den dunklen Flur und trat in das Zimmer der Tante Diakonus. Hier wollte sie versuchen, ruhiger zu werden, in diesem dunkelnden, köstlich stillen, anheimelnden Stübchen voll Blumenathem und sanft durchwärmter, reiner Luft. Sie setzte sich in den Lehnstuhl hinter dem Nähtisch. Die Lorbeerbäume wölbten sich zur Laube über und neben ihr; die Narcissen, Veilchen und Maiblumen auf den Fenstersimsen dufteten betäubend süß, und der Canarienvogel, der sich’s eben im Dämmerdunkel zur Nachtruhe bequem gemacht, hüpfte piepend und erregt in seinem Käfig von einem Stengel zum andern – es war doch Leben neben ihr, wenn auch nur das einer erschreckten Vogelseele. Aber ruhiger wurde sie nicht. Durch diese Räume war die schöne Verlassene im Wittwenschleier gewandelt, und die lächelnden Genien, die noch an der Stuckdecke schwebten, hatten auf ihre Schmerzensausbrüche, ihre Todesnoth niedergesehen. Käthe wehrte sich vergebens gegen die Spukgestalt und den Gedanken, daß auch Bruck den Trennungsschmerz nicht überleben werde. Henriette hatte das gesagt; sie hatte seine tiefe, heiße Liebe in der ersten Verlobungszeit gesehen – sie mußte es wissen.

Die Tante kam herein, um, wie jeden Abend, die brennende Lampe auf den Arbeitstisch des Doctors zu stellen. Sie schloß die Läden, ließ die Rouleaux herab und schürte das Feuer im Ofen; dann ging sie wieder hinaus, ohne das junge Mädchen in ihrer kleinen Fensterlaube bemerkt zu haben. Ihr leiser, schwebender Tritt erlosch schon hinter der Thür, gleich darauf aber hallten feste Männerschritte durch den Flur, und der Doctor trat in das Zimmer.

Er blieb einen Moment an der Schwelle stehen und strich sich tief aufseufzend mit der Hand über die Stirn; er ahnte so wenig wie die alte Frau, daß dort hinter dem dunklen Laub ein Menschenherz in tödtlicher Angst klopfe – drückte sich doch die Mädchengestalt, athemlos, wie zu Stein erstarrt, an die Fensterwand. War Alles vorüber? Kam er verarmt, verzweifelnd, ein einsamer Mann für immer?

Rasch durchschritt er die beiden Zimmer und trat an seinen Schreibtisch. Käthe erhob sich lautlos. Mitten im Stübchen der Tante stehend, konnte sie ihn sehen. Der Lampenschein beleuchtete grell und voll sein Profil, das noch alle Symptome aufgestürmter Leidenschaft zeigte. Er war erhitzt, dunkelroth auf Stirn und Wangen, als habe er einen weiten Weg in brennender Mittagsgluth gemacht; selbst die Augenlider erschienen geröthet. Es war auch ein heißer Weg gewesen, ein Weg über Trümmer, zerstörte Illusionen und Hoffnungen – war er am Ende, am öden Ziel, wo die schöne Fata Morgana entschwebte und die ganze schreckhafte Einsamkeit kommender Zeiten ihn anstierte?

Im Stehen schrieb er ein paar Zeilen auf einen Briefbogen und steckte das Blatt in ein Couvert. Das geschah mit hastigen Händen, in fiebernder Erregung. Auch die Adresse wurde in flüchtigen Zügen hingeworfen – wessen Name war es, den er schrieb? Gab es in dieser Stunde, außer der furchtbaren Entscheidung, noch Etwas auf Erden, an das er denken mochte? Der Brief konnte nur für Flora bestimmt sein – ein letztes Lebewohl, oder der zermalmende Richterspruch eines sterbenden Mannes?

Und nun goß er aus einer Caraffe Wasser in das milchweiße Kelchglas, in welches sie neulich ihren Frühlingsstrauß gesteckt hatte, dann schloß er einen kleinen Schrank im Schreibtisch auf und nahm ein winziges Medicinfläschchen heraus; er hielt es gegen das Licht – fünf silberhelle, farblose Tropfen fielen in das Glas.

Bis dahin hatte Käthe mit dem unheimlichen Gefühl, als stehe ihr das Herz still, wie gelähmt an ihrem Platze verharrt, aber nun kam die ganze, allmählich bis in’s Maßlose gesteigerte Aufregung ihres Inneren stürmisch zum Ausbruch. Mit einigen raschen Schritten stand sie an seiner Seite und legte die Linke auf seine Schulter; mit der Rechten umfaßte sie krampfhaft seine Hand, die das Glas eben zum Munde führen wollte, und zog sie langsam nieder.

Sie war keines Lautes fähig; ihre ganze Seelenangst, der innere Jammer, das unsägliche Mitleiden, das ihr gleichsam das

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 189. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_189.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)