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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

beleidigt. „Uebrigens bedurfte es dieser Zurechtweisung Deinerseits durchaus nicht, mein Freund,“ setzte sie sehr scharf hinzu; „ich kenne meine Pflicht und wäre sehr gern aus eigenem Antriebe bereit gewesen, Henriette zu tragen, hätte ich mir nicht selbst sagen müssen, daß das bei meinem schwachen Körperbau geradezu Wahnsinn sei, und wäre Käthe nicht eine solche urgesunde, robuste Walkürennatur, die eine derartige Anstrengung sicher nicht anficht.“

Er antwortete ihr mit keiner Silbe und rief der herbeieilenden Tante zu, rasch ein Bett herzurichten. Diese lief, so schnell sie konnte, in das Haus zurück, und als die Ankommenden den Flur betraten, da stand sie schon an der geöffneten Thür eines nach Westen gelegenen Zimmers und winkte stumm und mit bestürzter Miene, da einzutreten.

Es war ihre Fremdenstube, ein von glänzendem Tageslichte erfüllter, ziemlich großer Raum mit ausgetretenen Dielen, verschabten, einst rosa angestrichenen Wänden und einem Ofenungethüm von schwarzen Kacheln. Die neuen, mit Rosen bedruckten Kattunvorhänge an den zwei Fenstern waren vielleicht der einzige Luxus, den sich die Tante Diakonus beim Umzuge gestattet hatte. Am Kopfende des Bettes stand ein uralter, mit chinesischen Figuren beklebter Bettschirm, und rings an den Wänden hingen schwarzeingerahmte, nicht besonders künstlerisch ausgeführte Scenen aus der lieblichen Idylle „Louise“ von Voß. Eine köstlich reine, mit Lavendelduft gemischte Luft wehte die Eintretenden an.

Auf der jugendlichen Stirn des Doctors lag ernste Besorgniß. Es dauerte sehr lange, bis sich unter seinen Bemühungen Henriettens Augen zu einem umschleierten Blicke öffneten. Sie erkannte ihn sofort, aber ihre augenblickliche Schwäche war so groß, daß sie die Hand nicht von der Bettdecke zu heben vermochte, um sie ihm zu reichen. Er hatte den Gartenarbeiter in die Villa Baumgarten geschickt, um die Präsidentin von dem Vorgefallenen zu benachrichtigen – sie kam sogleich. Bis dahin war im Krankenzimmer kein Wort gefallen. Flora stand in dem einen Fenster und starrte in die Gegend hinaus, und in dem anderen saß Käthe, die Hände in den Schooß gefaltet und den Blick auf das Bett geheftet, während die Tante geräuschlos ab- und zuging, um dem Doctor Alles herbeizubringen, was er brauchte.

Die Präsidentin sah sehr verstört aus; sie erschrak sichtlich, als sie Henriettens Gesicht so wachsbleich auf dem Kissen liegen sah, und mochte wohl das Schlimmste befürchten, weil die Kranke bei ihrer sanften Anrede die Wimpern nicht hob. Henriette hatte die Augen in dem Moment wieder geschlossen, als ihre Großmutter auf die Schwelle getreten war.

„Sagt mir um’s Himmelswillen, wie das gekommen ist!“ rief die alte Dame; ihre weiche, vornehm moderirte Stimme klang förmlich erschreckend laut in die bisher beobachtete Stille hinein.

Nun trat Flora aus dem Fenster und erzählte. Sie schilderte ergrimmt, mit drastischer Deutlichkeit die Scene im Walde; ihrer Darstellung nach hatte sie selbstverständlich keinen Augenblick den Muth und die Geistesgegenwart verloren, aber einer Schaar von mindestens zwanzig Furien gegenüber brauche der stärkste Geist alle seine Kraft, um nicht vor Ekel und Abscheu zu erliegen, versicherte sie.

Die Präsidentin ging währenddem ganz außer sich auf und ab; sie bemerkte in ihrer Erregung nicht einmal, daß ihre Seidenschleppe auf dem faserigen Dielenboden jenes monoton schrille Geräusch machte, das für leidende Nerven zur Tortur werden kann. „Was sagt ‚der Menschenfreund‘ nun dazu?“ fragte sie endlich stehenbleibend, und aus ihren halbzugesunkenen Augen zuckte es wie ein mörderischer Blick nach dem Doctor hin.

Er schwieg mit jener ruhigen Milde, die sein jugendlich schönes Gesicht so geistig überlegen erscheinen ließ. Henriettens Hand in der seinen haltend, schien er nur Augen für das schwach pulsirende Leben zu haben, das jeden Augenblick in das Nichts zerrinnen konnte.

Die alte Dame trat wieder an das Bett und bog sich mit zurückgehaltenem Athem über die Kranke.

„Herr Doctor,“ sagte sie nach einem momentanen Zögern, „der Zustand scheint mir sehr bedenklich – wollen wir nicht doch endlich einmal meinen alten, erfahrenen Freund und Hausarzt, den Medicinalrath von Bär, zu einer Consultation herbeiziehen? – Sie dürfen mir das nicht verargen.“

„Nicht im Geringsten, Frau Präsidentin,“ sagte er, die aufzuckende Hand der Kranken auf die Bettdecke legend. „Es ist sogar meine Pflicht, Alles zu thun, was zu Ihrer Beruhigung dienen kann.“ Er erhob sich ruhig und verließ das Zimmer, um nach dem verlangten Arzte zu schicken.

„Mein Gott, was für einen Streich habt Ihr gemacht, Henriette hierher zu bringen!“ schalt die Präsidentin hastig, mit gedämpfter Stimme, sobald sich die Thür hinter dem Hinausgehenden geschlossen hatte.

„Daran ist Käthe’s Weisheit schuld,“ versetzte Flora erbittert. „Ihr mache den Vorwurf, daß wir nun möglicherweise gezwungen sind, in dem verkommenen Neste hier wochenlang verkehren zu müssen“ – ihre Augen streiften zornig das schweigende Mädchen im Fenster.

„Und welche Indolenz, das arme Geschöpf so zu betten, daß sie bei jedem Augenaufschlag das schwarze Ungeheuer von Ofen vor sich hat! Dazu diese Fratzen an den Wänden – man könnte sich fürchten.“ Die alte Dame wandte ihr bei diesen naiven Darstellungen den Rücken und untersuchte das Bett. „Das Lager scheint passable zu sein; das Leinen wenigstens ist weiß und weich, aber ich werde doch Henriettens seidene Steppdecke herüberschicken; ebenso einen bequemen Fauteuil für den Medicinalrath, vor allen Dingen aber anderes Waschzeug. – Steingut!“ sagte sie verächtlich und schob das saubere Geschirr auf dem Waschtische zusammen, um für das kommende gemalte und vergoldete Porcellan Platz zu machen. „Gott, wie erbärmlich leben doch solche Leute! Und das fühlen sie nicht einmal – wünschest Du etwas, mein Engel?“ unterbrach sie sich mit sanfter Stimme und trat wieder an das Bett.

Henriette hatte langsam den Kopf aufgerichtet und einen sprühenden Blick um sich geworfen; jetzt lag sie schon wieder mit geschlossenen Augen da, aber ein Anschein von Kraft war insoweit zurückgekehrt, als sie die Hand der Großmama, die streichelnd ihre Rechte berührte, wegzuschieben vermochte.

„Eigensinnig, wie immer!“ seufzte die Präsidentin und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bette.

Der Medicinalrath ließ nicht lange auf sich warten, aber er kam ganz consternirt. Er konnte sich anfänglich durchaus nicht d’reinfinden, seine alte Freundin im Hause am Flusse zu sehen, bis man ihm in flüchtigen Umrissen das Vorgefallene mittheilte. Er war ein hübscher alter Herr, spiegelblank vom Kopfe bis zur Zehe und von hochmüthig zurückhaltenden Manieren. Er war Leibarzt des regierenden Fürsten, hatte für seine Verdienste den Adel, eine hübsche Anzahl Orden, Brillanten und goldene Schnupftabaksdosen erhalten, und draußen an der Brücke hielt seine prächtige Equipage.

„Fatal, sehr fatal!“ sagte er mit bedenklicher Miene an das Bett tretend. Er beobachtete die Kranke minutenlang, dann fing er an, die kranke Brust zu beklopfen. Er that das zwar vorsichtig, aber die Patientin stöhnte dennoch auf; die wiederholte Berührung verursachte ihr offenbar Schmerz.

Doctor Bruck stand schweigend mit untergeschlagenen Armen neben ihm. Er zuckte mit keiner Wimper; allein bei dem ersten Jammerlaute Henriettens zogen sich seine Brauen unwillig zusammen; in diesem vorgerückten Stadium der Krankheit war eine so anhaltende, gründliche Untersuchung vollkommen überflüssig. „Darf ich Ihnen meine Beobachtungen mittheilen, Herr Medicinalrath?“ fragte er mit gelassener Stimme, aber nachdrücklich, um ein Ende zu machen.

Der alte Herr schielte seitwärts empor. Für den bittersten, gehaßtesten Feind gab es keinen giftigeren Blick, als der aus den tiefliegenden Augen des vornehmen Arztes schoß. „Erlauben Sie, daß ich mich persönlich überzeuge, Herr College!“ antwortete er kalt und setzte seine Untersuchungen fort. „So, nun stehe ich zu Ihrer Verfügung,“ sagte er einige Augenblicke später. Er trat vom Bett zurück und folgte dem Doctor, der die Thür öffnete, in das Eck- und Arbeitszimmer.

Gleich darauf hob Henriette die Wimpern. Auf ihren Wangen lag das gefährliche Roth innerer Aufregung, und sie verlangte mit fast heftigen Geberden und Worten nach ihrem Arzte, dem Doctor Bruck.

Die Präsidentin vermochte kaum ihren Aerger über „den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 158. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_158.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)