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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

„Ich soll mich ein wenig im Stadtforste ergehen, um Tannenharzluft zu athmen.“

„Dann werde ich mich anschließen,“ sagte Flora. „Ich brauche auch Luft, Luft, um nicht zu ersticken unter der Last von Widerwärtigkeiten, die mir das Schicksal aufbürdet.“

Sie reichte der Präsidentin den Arm, um sie die Treppe hinabzuführen.

Henriette stampfte zornig mit dem Fuße; sie hätte weinen mögen vor Aerger, aber verhindern konnte sie es doch nicht, daß die schöne Schwester nach Tische im weißen Filzhütchen, den Palmblattfächer in der Hand, erschien, um sie auf dem Waldspaziergange zu begleiten.

Es war ein herrlicher Apriltag mit wolkenlos blauem Himmel, mit glitzerndem Sonnengolde auf Weg und Steg und dem Dufte der ersten Veilchen in seinen sammetweichen Lüften. Noch war es hell in dem Streifen Laubwald, der den schwarzgrünen Mantel des Tannenforstes gleichsam verbrämte, so hell, als sei die Kuppel von diesen sonst so wonnig dunkelnden Säulengängen genommen; noch lag das machtvolle Grün, das die knorrigsten Aeste bewältigt und sie geschmeidig jung aussehen macht, zu Milliarden weicher Flöckchen zusammengedrückt, im engen, braunen Schrein der Knospen; nur das feinzweigige Unterholz umschleierte ein bläßlich grüner Hauch, und aus den feuchten Moospolstern reckten sich langstielige weiße Glöckchen. Diesen kleinen hellen Blumen ging Käthe pflückend nach, während Flora und Henriette auf dem schmalen Wege blieben, der nach dem Tannengrunde führte.

Still war es heute nicht im Walde – es war der Tag, an welchem sich die Armen der Stadt das dürre Holz holen durften. Man hörte das Einknicken verdorrter Aeste, das gegenseitige Zurufen von Menschenstimmen, und tief im Gestrüpp stand Käthe plötzlich vor einem braunen Weibe, das eben einen abgesägten armstarken Buchenast zu Boden riß. War es, weil sie grünes statt des erlaubten dürren Holzes in den Händen hielt, oder machte ihr die unerwartet hervortretende Erscheinung selbst einen zornerregenden Eindruck – sie warf unter dem lilafarbenen Tuch hervor, das sie um den Kopf gebunden hatte, einen wilden Blick auf das junge Mädchen; in der Art und Weise aber, wie sie, kerzengerade aufgerichtet, mit dem Ast gleichsam spielend über den Boden hin- und herfegte, lag eine freche Herausforderung.

Käthe fürchtete sich nicht im Geringsten; sie bückte sich, um eine ganze Familie Anemonen unter dem nächsten Strauche zu pflücken; in diesem Augenblick drang vom Wege her ein vereinzelter Ruf, ein schwacher Laut, dem ein Tumult von geflissentlich gedämpften Stimmen folgte.

Das Weib horchte auf, schleuderte den Ast fort und schlug sich in der Richtung des Lärms quer durch das Untergesträuch. Und jetzt zitterte der Aufschrei wieder herüber – es war Henriettens krankhaft verschleierte, dünne Stimme. Käthe folgte der Frau auf den Fersen; die Dornen rissen ihr Fetzen vom Kleide, und die Büsche, die das Weib mit kräftigen Armen theilte, schlugen zurückschnellend und klatschend in ihr Gesicht, aber sie kam rasch heraus auf den Weg.

Zuerst sah sie nur einen Knäuel von Weibern und zerlumpten Jungen, der sich um den Stamm einer Kiefer drängte; bei den heftigen Bewegungen der Versammelten aber theilte sich da und dort das Conglomerat von struppigen Haaren und schmutzigen Kopftüchern und ließ Flora’s weißes Hütchen mit der emporstehenden blauen Feder auftauchen.

„Lasse den Zwerg los, Fritz!“ rief ein bärenhaftes Weib.

„Aber sie schreit ja wie närrisch,“ sagte eine Jungenstimme.

„Ach was, das Piepen hört kein Mensch.“ Die Frau hatte eine breite Stumpfnase und kleine, boshafte Augen und überragte in hünenhafter Länge alle Anderen.

Jetzt sprach Flora – Käthe erkannte kaum ihre Stimme.

Ein vielstimmiges Hohngelächter antwortete ihr.

„Aus dem Wege gehen?“ wiederholte das große Weib. „Das ist der Stadtforst, Fräulein; da kann der ärmste Bürger spazieren gehen, so gut, wie die großen Herren – den will ich sehen, der mich da vertreibt.“ Sie stellte sich noch breitspuriger hin. „Da guckt her, ihr Leute! Unsereins sieht das Gesicht sonst nur in der stolzen Kutsche, wenn die Pferde um die Ecken rennen und den armen Leuten am liebsten die Beine wegfahren möchten. … Ein schönes Frauenzimmer sind Sie, Fräulein – das muß Ihnen der Neid lassen. Alles Natur, nichts angestrichen; eine Haut wie Sammet und Seide – ’neinbeißen möchte man.“ Sie bog den Kopf dicht neben das weiße Hütchen.

Die Frau, die vor Käthe hergelaufen war, wühlte sich förmlich in den Kreis. „Da kommt noch Eine!“ rief sie und zeigte mit dem Finger auf das junge Mädchen zurück.

Die Nächststehenden fuhren herum und traten unwillkürlich auseinander. Da stand Schwester Flora, weiß wie Schnee auf Wangen und Lippen; man sah ihre Kniee wanken – sie rang sichtlich nach der gewohnten stolzen Haltung.

„Die geht uns nichts an,“ schrie ein Junge und wandte Käthe den Rücken; der Kreis schloß sich wieder, noch enger, dichter als vorher.

„Käthe!“ rief Henriette in hülfloser Angst hinter der Mauer von Menschenleibern, aber der Ruf wurde sofort erstickt; man hörte deutlich, daß ihr eine Hand auf den Mund gepreßt wurde. In demselben Moment taumelten drei, vier Jungen rechts und links. Käthe stieß mit kraftvollen Armen selbst das Hünenweib auf die Seite und trat vor ihre Schwestern. „Was wollt Ihr?“ fragte sie mit lauter, fester Stimme.

Einen Augenblick standen die Angreifer bestürzt, aber auch nur einen Augenblick – es war ja nur ein Mädchen mit einem blutjungen Gesicht, das da zu Hülfe kam. Nun wurde auch sie unter lautem Gelächter mit eingeschlossen.

„Tausendsapperlot, die fragt ja so kurz und knapp wie die Herren auf dem Gericht,“ rief die Große und schlug sich klatschend auf die breite Hüfte.

„Ja, und thut so stolz, als ob sie directement von den heiligen drei Königen abstammte,“ fiel die Frau im violetten Kopftuch ein. „Hören Sie, Ihre Großmutter war aus meinem Dorfe. Schuh’ und Strümpfe hab’ ich dazumal nicht an ihren Füßen gesehen, und ich weiß auch noch recht gut, wie Ihr Großvater Hü und Hott bei dem alten Müller Klaus seinen Pferden machte –“

„Glaubt Ihr, ich weiß das nicht, oder ich schäme mich dessen?“ unterbrach sie Käthe ruhig und kalt, aber jeder Blutstropfen war ihr aus dem ernsten Gesicht gewichen.

„Wär’ auch noch schöner – ist Ihnen doch sein Geld gut gewesen, das viele, viele Geld,“ rief eine Dritte, sich dicht an das junge Mädchen hinandrängend. Sie griff nach Käthe’s seidenem Kleide und rieb den Stoff prüfend zwischen den Fingern. „Ein schönes Kleid! Ein Staatskleid! Und so mitten in der Woche und im Walde, wo die Fetzen an den Dornen hängen bleiben! Na, was schadet’s denn? Das Geld ist ja da. Spreukörbe voll haben sie bei dem Alten gefunden. Aber wo es hergekommen ist? Gelt, darnach wird nicht gefragt? Ob der Schloßmüller den armen Leuten das Korn vor der Nase weggekauft und auf seinen Böden eingeschlossen hat, viel tausend scheffelweise – das ist Ihnen sehr einerlei, Fräulein. Und ob er gesagt hat, es müßte erst so und so hoch im Preise steigen, ehe er auch nur eine Schaufel voll hergäbe, und wenn die Leute wie die hungrigen Mäuse pfiffen –“

„Lüge!“ rief Käthe außer sich.

„So – Lüge? Es ist wohl auch nicht wahr, daß wir nun den Gründern in die Krallen geworfen werden? Die nehmen uns die letzte Kartoffel aus dem Topfe. Das giebt ein Unglück. Meine Tochter geht lieber in’s Wasser, als daß sie bei den Menschenschindern arbeitet.“

„Und mein Bruder schießt sie am ersten Tage über den Haufen,“ prahlte ein halbwüchsiger Bursche.

„Ja, wie dem Zwerg da seine Tauben,“ sagte ein anderer anzüglich und mit den Augen blinzelnd und zeigte auf Henriette, die sich mit zuckendem Gesicht, in wahnsinniger Angst an Käthe anklammerte.

Da scholl in ziemlicher Nähe das Gekläff eines Hundes. Augenblicklich richtete sich Flora auf, und der ganze kalte Hochmuth, der ihr zu Gebote stand, spiegelte sich auf ihrem Gesicht. „Was geht mich der Verkauf der Spinnerei an?“ fragte sie verächtlich. „Macht das mit dem Commerzienrathe aus! Er wird Euch schon zu antworten wissen. Und nun, marsch aus dem Wege! Eure Unverschämtheit soll Euch sehr schlecht bekommen – darauf könnt Ihr Euch verlassen.“

Sie streckte den Arm mit einer herrischen Geberde gegen

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