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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

könne; denn jener sei am 1. August 1773 auf der Landstraße bei Péronne in der Picardie, also zweihundert Lieues entfernt von Toulouse gefunden worden, während, wie hunderte von Zeugen beweisen können – der Sohn der Gräfin von Sollar erst am 4. September 1773 Toulouse verlassen habe, mithin zu einer Zeit, wo der unbekannte Taubstumme bereits in Bicêtre aufgenommen worden.

Es gelingt dem Gefangenen, auch einen Vertheidiger zu gewinnen in der Person des Advocaten Tronson du Coudray. Dieser führt noch an: 1) Der angebliche junge Sollar habe weder seine Schwester noch die Bilder seiner Eltern erkannt, nicht einmal seinen Entführer Cazeaux. 2) Seine Schwester und vier Personen, welche den Knaben im Alter von zwölf Jahren gekannt, haben ihn nicht recognoscirt, und dies beweise mehr als das Anerkenntniß aller anderen Personen, welche das Kind seit seinem siebenten Jahre aus dem Gesichte verloren gehabt. 3) Ueberdies habe Joseph nicht einmal Aehnlichkeit mit dem verstorbenen Sollar: der Schullehrer, welcher diesen in Toulouse unterrichtet, habe jenen nicht erkannt und sei von demselben nicht erkannt worden. 4) Was den Doppelzahn anbetrifft, so hatte der junge Sollar allerdings einen solchen, aber nicht wie der lebende in dem unteren, sondern in dem oberen Kiefer. 5) Zu alledem kommt, daß bisher auch nicht das geringste Motiv zur Verübung des Verbrechens angedeutet, geschweige denn wahrscheinlich gemacht worden.

Diese Sätze der Vertheidigung zu entkräften oder zu widerlegen unternimmt der Abbé de l’Epée selbst. Er war in seiner Jugend Jansenist gewesen, und da ihm, weil er das orthodoxe Formular nicht unterzeichnen gewollt, der Eintritt in den Priesterstand versagt worden, hatte er sich der Rechtswissenschaft gewidmet und war als Advocat bei dem Parlament in Paris eingetreten. Nun holt er die alten rostig gewordenen Waffen aus jener Zeit wieder hervor und ersetzt, was ihnen an Schärfe abgeht, durch Verbitterung und Verbissenheit. Er bestreitet Alles, was von Seiten des Angeklagten und des Vertheidigers vorgebracht ist. Der inzwischen eingegangene Todtenschein des jungen Grafen von Sollar beweise nichts, sondern bekunde nur, daß zu Charlas am gedachten Tage ein Kind gestorben, welches man, auf Anstiften des Angeklagten, als Graf von Sollar beerdigt habe. Den Termin der Abreise von Toulouse habe der Angeklagte nachträglich durch Rechnung ausgeklügelt, um das Alibi festzustellen. Im Königreiche seien etwa dreitausend Taubstumme, von denen die Hälfte ungefähr auf die ärmeren Familien falle. Vermuthlich habe der Angeklagte aus einer derselben ein solches unglückliches Kind durch Bestechung sich zu verschaffen gewußt, dies als Grafen von Sollar im Lande umhergeführt, um für den Fall der Entdeckung seines Verbrechens Entlastungszeugen sich zu sichern und so die Spur der begangenen Unthat auszutilgen. Als Motiv des Verbrechens ergebe sich der Wille der Gräfin von Sollar, welche mit ihrem Gatten in Unfrieden gelebt, den Knaben gehaßt und den ihr wohlbekannten Angeklagten durch Geld bewogen habe, das Kind bei Seite zu schaffen.

Die Proceßschriften gehen hin und her. Monat auf Monat verrinnt[WS 1]. Cazeaux bleibt verhaftet. Das Châtelet weigert sich, ihn in Freiheit zu setzen; er appellirt an das Parlament. Dieses ordnet Beweisaufnahme an über den Zeitpunkt der Abreise des jungen Sollar von Toulouse, die Reise nach Bagnères, nach Charlas, die Krankheit und den Tod des Kindes, weil der Todtenschein wegen einiger Unregelmäßigkeiten nicht vollen Beweis liefere.

Demgemäß reisen im August 1779 zwei Räthe vom Gerichtshofe des Châtelet, zwei Gerichtsschreiber, der Schützling des Abbé de l’Epée mit einem Dolmetscher und der Angeklagte nach Toulouse. Joseph erkennt weder das Stadthaus von Toulouse, ein herrliches, großartiges Gebäude, vor welchem der junge Sollar täglich gespielt hatte, noch das Wohnhaus seiner Mutter oder ein anderes von denjenigen, in welchen der Knabe damals oft verkehrte. Mehr als hundert Personen werden vernommen: nicht ein einziger Zeuge erkennt in dem Knaben das Grafenkind. Dagegen wird bezeugt und festgestellt 1) durch eine große Anzahl von Personen, daß Cazeaux in den ersten Tagen des September oder zur Zeit der Traubenreife oder beim Beginne der Parlamentsferien oder an Notre-Dame de Septembre 1773 Toulouse verlassen habe; 2) daß mehrere Personen Cazeaux nebst dem jungen Sollar auf dem Wege nach Bagnères getroffen und erkannt haben; 3) durch eidliche Aussage mehrerer hochgestellter Personen aus Toulouse, daß sie gleichzeitig mit dem jungen Sollar, welchen sie sehr genau kannten, im September 1773 zu Bagnères gewesen; 4) durch Bekundung mehrerer hundert Personen, daß sie sowohl Cazeaux als Sollar im October 1773 zu Charlas haben ankommen sehen, daß der Knabe bis zum Januar 1774 bei der Mutter seines Begleiters geblieben, schließlich ein Opfer der damals in Charlas herrschenden Blatternepidemie geworden und auf dem dortigen Kirchhofe begraben sei; 5) daß Joseph weder in Bagnères noch zu Charlas von Irgendwem wieder erkannt worden sei. Die Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt der richterlichen Beamten geht so weit, daß sie das Grab in Charlas öffnen lassen. Knochen und Schädel werden herausgenommen: der Doppelzahn ist noch vorhanden und zwar im Oberkiefer.

Trotz aller dieser Beweise will der Abbé de l’Epée seinen „vornehmen Taubstummen“ nicht verlieren; er bietet seinen ganzen Einfluß nach allen Richtungen auf, und in der That erklärt das Châtelet im Jahre 1781 den Knaben Joseph als den Grafen von Sollar und Cazeaux der Entführung etc. schuldig. Der Verurtheilte appellirt. Ihm leiht seine Feder der Vater der berühmten beiden Elie de Beaumont. Auch mit ihm nimmt der Abbé de l’Epée den Zweikampf auf dem Papiere an, und noch ist der Proceß in zweiter Instanz nicht entschieden, als am 23. December 1789 der ausgezeichnete Lehrer der Taubstummen, der Protector des jungen Grafen von Sollar, starb. Für ganz Frankreich ist eine neue Zeit angebrochen. Neue Gerichte werden in Paris eingesetzt. Auch für den armen Cazeaux ist endlich der Tag der Freiheit gekommen. Im Jahre 1792, also nach anderthalb Jahrzehnten seit der Verhaftung des jungen Mannes, wird das Urtheil des Châtelet aufgehoben und Joseph verboten, sich Graf von Sollar zu nennen.

Schon längst hatte die öffentliche Meinung aufgehört, mit den beiden Hauptpersonen des Processes sich zu beschäftigen. Joseph, von aller Welt verlassen, ließ sich – merkwürdig genug – in einem Kürassierregimente anwerben und starb bald nachher in einem Hospitale. Und keine Menschenseele dachte daran, den armen Cazeaux für die schweren Leiden langer Jahre zu entschädigen.

Wie seltsam das Benehmen und die Handlungsweise des Abbé de l’Epée in diesem Falle gewesen: es nimmt dem Manne nichts an seinem Ruhme, sich als ein Wohlthäter der Unglücklichen gezeigt zu haben, und mit Recht erklärte die Nationalversammlung, daß der Abbé de l’Epée um das Vaterland und die Menschheit sich wohl verdient gemacht habe. Noch eine hohe Ehre war ihm vorbehalten: er wird der Held eines historischen Lustspiels, welches am 23. Frimaire des Jahres VIII auf dem Théâtre français de la Republique dargestellt wird. Aus Joseph ist in dem Lustspiele Theodor geworden er ist nicht mehr der junge Graf von Sollar, sondern der Graf von Harancour. Nicht die Mutter läßt den Knaben bei Seite schaffen, sondern ein habgieriger Oheim vollführt mit Hülfe eines alten Dieners die That. Der alte Abbé de l’Epée durchwandert mit seinem Schützlinge zu Fuß ganz Frankreich, um des Taubstummen Heimath zu entdecken. Sie kommen nach Toulouse, und hier wird endlich durch die fromme Sanftmuth des hochverehrten Priesters, durch übereinstimmende Zeugnisse der starre Sinn des geizigen Oheims gebrochen: er erkennt den Grafen von Harancour an und giebt ihm sein Vermögen zurück. Am Schlusse bilden die Hauptpersonen des Stückes eine Gruppe um den Abbé, und dieser spricht: Endlich ist er wieder an seinen Herd zurückgekehrt; endlich trägt er den edeln Namen seiner Väter. O Vorsehung! Mir bleibt auf der Welt nichts mehr zu wünschen übrig, und wenn ich diese sterbliche Hülle verlassen werde, kann ich mir sagen: ich darf in Frieden ruhen, denn ich habe mein Leben wohl ausgefüllt.“

Und mit stürmischem Beifalle wird das Stück aufgenommen. Unter Thränen preist das begeisterte Publicum den Abbé de l’Epée nicht als Lehrer der Taubstummen, sondern als Beschützer des Grafen von Sollar. Hatte nicht der Franzose Recht, welcher fragte: wie viel Thoren gehören dazu, um ein Publicum auszumachen?




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: verinnt
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 135. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_135.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)