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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

„Ah so – das konnte man sich denken,“ sagte Flora und legte die Noten auf das Pult zurück.

Henriette war währenddem hinter ihr weggeschlüpft; sie bog sich über Käthe’s Schulter und zeigte mit dem Finger auf das Titelblatt. „Lasse Dir doch nichts weißmachen, Flora!“ rief sie auflachend. „Sieh her! Da steht der berühmte Verlag von Schott und Söhne – die Firma giebt sich doch zu einem Geburtstagsspaße nicht her. Käthe, sage die Wahrheit!“ bat sie mit strahlenden Augen. „Man spielt Deine Sachen draußen in der Welt – sie werden gekauft?“

Das junge Mädchen nickte erröthend und bestätigend mit dem Kopfe. „Die Wahrheit ist aber auch, daß ich um mein eigenes Hinaustreten nicht gewußt und das erste Opus gedruckt auf meinem Geburtstagstische gefunden habe,“ sagte sie und begann ihren Vortrag.

Es war eine ganz einfache Melodie, welche an das Ohr der Hörer schlug, aber schon nach einigen Tacten ließen die am Spieltische Sitzenden die Whistkarten sinken, so sammetweich quollen die Töne aus dem Instrumente, und so durch und durch originell und herzergreifend klang die neue Weise. Die junge Componistin saß da, die Augen ernst sinnig auf die Noten geheftet, in so ruhiger Haltung, daß man das schwarze Jetkreuz auf ihrer Brust unter den Athemzügen beben sehen konnte. Da war kein Brilliren mit Fingerfertigkeit, kein „Wühlen in den Tönen“ – man fragte sich nicht, ob das Spiel correct sei; man dachte überhaupt nicht an das Spiel, so wenig wie man bei einem erschütternden Gesange an die Mundstellung des Sängers denkt, und als die Melodie schwieg, die nicht einmal zum Schlusse in die rauschende Gangart eines modernen Concertstückes verfallen war, da blieb es noch einen Augenblick so athemlos still, als dürfe die entfliehende Tonseele, die eben noch so innig gesprochen, nicht durch lautes Geräusch erschreckt werden. Dann aber wurde es lebendig drüben im Salon. Die Herren riefen „Bravo!“ „Scharmant!“ und „Superbe!“, und die Damen bedauerten, daß der Papa Mangold das nicht erlebt habe. Man war überrascht, gerührt und – griff wieder zu den Karten.

„Die reizende ‚Phantasie‘ müssen Sie mir geben, Fräulein. Ich werde sie der Fürstin vorspielen,“ sagte die Hofdame mit Protectormiene.

„Und den schönsten Concertflügel, der je gebaut worden ist, sollst Du haben, Käthe!“ setzte der Commerzienrath enthusiastisch hinzu.

Henriette aber schmiegte liebkosend ihr blasses Gesicht an die blühende Wange der Schwester und flüsterte mit feuchten Augen: „Du Auserwählte!“

Schon nach den ersten Tönen war Flora wie verscheucht vom Flügel weggetreten und geräuschlos hinausgegangen. Langsam glitt sie drüben im rothen Zimmer hin und wieder, bei jeder herzerschütternden Wandlung der Melodie einen förmlich erschreckten Blick nach dem genialen Mädchen am Clavier werfend, und nun, als der letzte Ton verklungen, war die ruhelos schwebende weiße Gestalt verschwunden; sie hatte sich jedenfalls in die Schreibtischecke am Fenster zurückgezogen.

„Ah, mir scheint, Flora nimmt es übel, daß sie nun nicht mehr die einzige ‚Berühmtheit‘ der Familie Mangold sein wird,“ sagte Fräulein von Giese halb für sich, halb zum Commerzienrath gewendet mit boshaftem Geflüster.

Der Commerzienrath lächelte; er lächelte stets, wenn Jemand vom Hofe vertraulich zu ihm sprach, aber er vermied es, zu antworten.

„Auf Deine Doctorin bin ich übrigens sehr böse, weil sie mir niemals Näheres über Deine musikalische Begabung mitgetheilt hat,“ sagte er zu Käthe, die eben ihren Platz am Flügel verließ.

Sie lachte.

„Bei uns daheim wird überhaupt kein Aufhebens davon gemacht,“ versetzte sie unbefangen. „Die Doctorin ist eine Frau, die mit ihrem endgültigen Urtheil kargt und zurückhält; sie weiß, daß ich noch sehr viel zu lernen habe.“

„Ach, geh’ mir doch! Das ist schon mehr spartanische Erziehung –“

„Oder auch das ausgesuchteste Raffinement, mit welchem man einen großen Erfolg in Scene zu setzen wünscht,“ fiel Flora ein, die eben unter die Thür trat; ihr Gesicht glühte wie im Fieber. „Mir machst Du nicht weiß, Käthe, daß Du so harmlos bescheiden über Dein Talent denkst, daß Du wirklich so wenig Gewicht darauf legst, um bei einem fünftägigen Aufenthalt in unserem Hause gar nicht zu thun, als kenntest Du auch nur eine Note – das ist falsch, hinterlistig gegen mich, gegen uns Alle.“ Der aufquellende Groll erstickte fast ihre schöne, klangreiche Stimme.

„So urtheilst Du, Flora?“ brauste Henriette empört auf. „Du, die nie müde wird, ihre schriftstellerischen Bestrebungen, ihre ‚gelehrten Studien‘ in jedes Gespräch zu ziehen und breitzutreten, die sich in ihrem Bekanntenkreise bereits auf Erfolge stützt, welche noch abzuwarten sind –“

„Henriette, besorge den Thee!“ rief die Präsidentin in scharfem, strengem Tone herüber – man war zu laut im Musikzimmer.

Die Angerufene ging grollend hinaus.

„Du irrst, Flora, wenn Du denkst, ich lege kein Gewicht auf mein Talent,“ sagte Käthe vollkommen ruhig, während die geistesstolze Schwester zornig an der Unterlippe nagte und die Hinausgehende mit einem bitteren Blicke verfolgte. „Dann wäre ich unwahr gegen mich selbst und auch namenlos undankbar, denn es verschafft mir himmlische Stunden. Es ist Zufall, daß ich nicht gleich bei meiner Ankunft darüber gesprochen habe; denn gerade die Musik ist schuld, daß ich einen Monat früher hierher gekommen bin. Mein Lehrer in der Composition mußte auf vier Wochen verreisen, und weil ich dann volle zwei Monate den Unterricht eingebüßt haben würde, entschloß ich mich rasch und verließ Dresden mit ihm zugleich.“

Bei diesen letzten Worten des jungen Mädchens ging Fräulein von Giese in den Salon, sichtlich widerwillig sich losreißend – die Erörterungen waren ja doch zu pikant – aber ihr Vater, ein alter pensionirter Oberst, war eben gekommen; er mußte begrüßt werden, auch der Commerzienrath ging hinaus.

Flora trat wieder an den Flügel und nahm das Notenheft vom Pult. Käthe sah, wie sich der schöne Busen der Schwester unter fliegenden Athemzügen hob, wie ihre Hand in nervöser Aufregung bebte; Käthe bereute bitter die Arglosigkeit, mit der sie das kleine Werk in diesem Kreise vorgeführt hatte.

„Man hat Dir wohl viel Schmeichelhaftes darüber gesagt?“ fragte Flora und schlug mit der umgekehrten Rechten auf das Titelblatt – ihre Augen hingen verzehrend an den Lippen der Schwester.

„Wer denn?“ entgegnete Käthe. Meine Lehrer sind eben so zurückhaltend mit ihrem Lob wie die Doctorin, und Andere wissen nicht um meine Autorschaft; Du siehst doch, der Name des Componisten fehlt.“

„Aber das Werkchen wird viel gekauft?“

Käthe schwieg.

„Sage nur die Wahrheit! Ist es schon mehr als einmal aufgelegt worden?“

„Nun ja.“

Flora warf das Heft auf den Flügel. „Zu solch einem Backfisch mit dem dicken Posaunenengel-Gesicht und der unverkümmerten Seelenruhe kommt der Ruhm im Schlafe, und Andere müssen qualvoll kämpfen um jede Staffel; sie sterben fast im glühenden Ringen und Streben, ehe sie auch nur genannt werden,“ stieß sie bitter heraus. Sie schlug die Arme unter und ging auf und ab.

„Nun, was thut’s im Grunde?“ sagte sie plötzlich stehenbleibend, wie erleichtert. „Die glänzendste Rakete verpufft spurlos droben in der Luft; sie ist dagewesen, während der Feuerkern im Vesuv fort und fort glüht; die Welt weiß um sein Dasein, und wenn er seine Flammen ausstößt, dann jubelt oder zittert das Menschenherz. Ganz gut so, da sind es eben Zwei aus der Familie Mangold, die hinaustreten in die Arena. Wir wolle sehen, Käthe, wer von uns beiden die brillanteste Carriere macht.“

„Ich ganz gewiß nicht,“ rief Käthe heiter und strich sich ein rebellisches Löckchen aus der Stirn. „Ich werde mich hüten, in die Arena zu gehen. Denke ja nicht, daß ich unempfindlich bin gegen Erfolge! Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, zu sehen, daß man mit seinen Schöpfungen die Herzen Anderer rührt und bewegt, und das gäbe ich nicht hin um alle Schätze der Welt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_128.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)