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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

im Hause des Commerzienrathes nicht; da gab es kein Erholungsdämmerstündchen wie in Dresden. Sobald die Sonne erloschen, sanken unerbittlich die Rouleaux unter den Händen der Dienerschaft; die Gasflammen schlugen auf, und eine blendende Lichtfluth jagte den Schatten auch aus den fernsten Ecken.

Der dumpfe Pendelschlag der alten Wanduhr klang wie ein tactmäßiges, unterirdisches Klopfen, und durch den dicken, grünen Vorhang der geschlossenen Alkoventhür glomm das Nachtlicht an Susens Bett wie ein verdüstertes Gnomenauge. Das war wieder einmal ein so athemlos stiller Augenblick im Dunkeln. Wie hatte sie als Kind in solchen Momenten gläubig auf das Huschen und Schlurfen weißbestäubter Heinzelmännchen gehorcht, wenn ihr Suse erzählte, daß im Grundsteine der Mühle abergläubischer und barbarischer Weise ein neugeborenes Kind eingeschlossen und der Mauermörtel von dem übermüthigen Erbauer mit kostbarem Wein gemischt worden sei! Heute flogen ihr diese Erinnerungen nur flüchtig durch den Sinn; ihr Auge hing an dem schwachen Dämmerscheine, der durch das Südfenster hereinfiel, auf die Stelle, wo der Schloßmüller gestorben war, und sie dachte an die Art und Weise, wie Doctor Bruck ihr selbst die öffentliche Verurtheilung seiner Person mitgetheilt, und jetzt begriff sie noch weniger als neulich, daß er sich ihr gegenüber zu einer Vertheidigung herabgelassen hatte. … Und wenn die ganze Welt darauf bestand, sie glaubte nicht an ein keckes, gewissenloses Wagen, an dünkelhafte Selbstüberschätzung ohne Kunst und Wissen bei dem Manne, der die ernste, gedankenvolle Ruhe, die schlichte Wahrhaftigkeit und Geradheit selbst war. Und jetzt schoß ihr die Blutwelle wieder heiß und jäh nach dem Herzen, und ein starkes Zorngefühl quoll in ihr auf, wie heute Nachmittag, wo Flora in den crassesten Ausdrücken Bruck’s ärztliches Wirken gebrandmarkt hatte. Was für eine räthselvolle Frauennatur war sie doch, diese gefeierte Flora, dieses einst so sehr gefürchtete und doch heimlich bewunderte Idol der kleinen Käthe! … Henriette hütete sich seltsamer Weise, in den Stunden des Alleinseins mit der heimgekehrten Schwester über das Brautpaar eingehend zu sprechen, aber hier und da waren ihr doch Bemerkungen über die Lippen geschlüpft, aus denen Käthe entnahm, daß Flora anfänglich eine leidenschaftlich liebende Braut gewesen sein mußte.

Doctor Bruck war, nachdem er den deutsch-französischen Krieg als Regimentsarzt mitgemacht und dann längere Zeit einer berühmten ärztlichen Capacität in Berlin assistirt hatte, hauptsächlich auf Wunsch seiner Tante nach M. zurückgekehrt. Der vortheilhafte Ruf, der ihm vorausgegangen, und seine imposante äußere Erscheinung hatten ihn sehr bald zu einem gesuchten Arzt und zu einer wünschenswerthen Partie für die Damenwelt gemacht. Es war mithin keineswegs Herablassung von Seiten der stolzen Flora Mangold gewesen, ihm die begehrte Hand zu reichen. Sie selbst hatte sich ihm auffallend genähert, indem sie einen schmerzhaft verstauchten Fuß keiner anderen Hand, als der des gefeierten neuen Doctors anvertrauen wollte – noch im Krankenhause hatte sie sich mit ihm verlobt und war darum vielfach beneidet worden. Aus diesem Grunde mochte sie auch vor dem peinlichen Aufsehen eines gewaltsamen Bruchs zurückscheuen. Darum diese perfide Lösung, die, auf ein allmähliches beiderseitiges Erkalten gestützt, schließlich von der Welt halbvergessen, geräuschlos vor sich gehen sollte.

Käthe sprang plötzlich auf – der Gedanke war ihr unerträglich, daß sie, im Falle ihres Bleibens, fortgesetzt Zeugin dieser empörenden Komödie sein und mit ansehen sollte, wie der unglückliche Mann trotz seiner starken Liebe und Gegenwehr aus seinem geträumten Paradiese gestoßen würde. Nein, auch sie hielt zu Moritz und Henriette. Flora durfte und sollte ihr Wort nicht brechen; die ganze Familie mußte einmüthig zusammenhalten, dem grausamen Verrath gegenüber. Die Thörin, daß sie so verblendet ihr Glück von sich stieß! Hatte sie ihn noch nie gesehen in seinem Heim, im Zusammenleben mit seiner treuen Pflegemutter? Wußte sie nicht, daß sie auf Händen getragen werden würde, wenn sie ihm das Glück gab, nach welchem er verlangte?

Käthe schrak heftig zusammen und schlug entsetzt die Hände vor das Gesicht – hier war es dunkel, schauerlich dunkel, so tiefe Nacht, daß die Sünde auf leisen Sohlen bis an die innersten Gedanken der Menschenseele heranschleichen konnte. Hastig lief sie über die Holzstufen und riß die Stubenthür auf – drunten im Flur brannte die große Hauslampe; der helle Schein quoll die Treppe herauf und warf durch die Säulen der Galerie schmale Lichtstreifen vor die Füße des jungen Mädchens, und aus dem Mühlenraum, dessen Thür eben geöffnet wurde, scholl das Lärmen und Tosen, zum Betäuben stark, durch das Haus. Licht und Geräusch verscheuchten augenblicklich den verlockenden Spuk, der sich in die unschuldige Mädchenseele gedrängt hatte. … Das war ja der große, weißgetünchte Vorsaal der Schloßmühle mit dem uralten, lebensgroßen Bildnisse des Erbauers, des geharnischten Mannes dort, der so gespenstig verwischt aus dem wackeligen schwarzen Rahmen niedersah. Einst hatte sie ihn gefürchtet, und jetzt erschien er ihr wie ein alter Freund – er führte sie in die Wirklichkeit zurück, von einem verrätherischen, sündhaften Traumbild hinweg, in welchem sie eine unrechtmäßige Stelle eingenommen hatte. …

Sie stieg die Treppe hinab und verließ die Mühle. Der Zugwind blies ihre heißen Wangen nachtfrisch an, und droben funkelten die goldenen Arabesken, die Sternbilder des Himmels, in köstlicher Klarheit. Käthe schämte sich ihrer müßigen Träumerei – aber war es nicht wie ein Schwindel gewesen, dessen man sich nicht erwehren kann, und der auch die gesündesten und kraftvollsten Menschen plötzlich befällt?

Schon von weitem sah sie die Lichter der Villa durch das Geäst flimmern, und als sie das Haus betrat, da schollen Clavieraccorde durch den Corridor. Das Instrument war prachtvoll, aber es wurde malträtirt durch barbarische Hände. Die Präsidentin hatte heute einen kleinen Empfangsabend; man kam, Alt und Jung, zum Thee. Die Aelteren saßen um den Whisttisch, und die junge Welt musicirte, plauderte und amüsirte sich, wie sie Lust hatte; es war ein zwangloses Zusammensein bis gegen zehn Uhr.

Käthe machte schleunigst Toilette und betrat den Salon, das große Balconzimmer im Erdgeschosse. Es hatten sich heute nur Wenige eingefunden; nur ein Spieltisch war besetzt, und der Theetisch, um den sich die jungen Damen zu gruppiren pflegten, sah einsam und verlassen aus.

Henriette saß hinter der Theemaschine. Sie hatte wieder einmal grellrothe Schleifen in ihrem blonden Haar, und ein ärmelloses Sammetjäckchen von der gleichen schreienden Farbe über einem hellblauen Seidenkleid. Das graue, schmale Gesichtchen sah fast spukhaft aus dem theatermäßigen Putz, aber ihre schönen Augen glänzten förmlich überirdisch. „Bruck ist wieder da,“ flüsterte sie mit heißem Athem und bewegter Stimme Käthe in’s Ohr und zeigte durch den anstoßenden Musiksalon, in welchem noch immer der Concertflügel gemißhandelt wurde, nach Flora’s Zimmer. „Käthe, er sieht aus, als sei er noch gewachsen, so hoch und so überlegen. … Gott im Himmel, mache doch nicht gar so ein ernsthaftes Nonnengesicht!“ unterbrach sie sich heftig – sie war unerklärlich aufgeregt. „Alle sind heute so mürrisch; Moritz hat eine Depesche bekommen und ist sehr zerstreut, und die Großmama hat entsetzlich schlechte Laune, weil ihr Salon leer ist. Ach, und ich bin so froh, so froh! … Weißt Du, Käthe, daß ich vorgestern bei dem schlimmen Anfall geglaubt habe, Bruck sähe mich als Leiche wieder? Nur das nicht! Ich will nicht sterben, wenn er nicht da ist.“

Sie sprach zum erstenmal vom Sterben, und es war gut, daß die clavierspielenden Finger drüben in erneuter Kraft über die Tasten flogen und die drei alten Herren am Kamin im lebhaften Disput ihre Stimmen erhöhten; denn der letzte Ausruf der Kranken hatte laut und leidenschaftlich geklungen; Käthe stieß sie verstohlen an – die Präsidentin warf einen scharfen, mißbilligenden Blick über die Augengläser hinweg nach dem Theetisch. Henriette nahm sich augenblicklich zusammen. „Ah bah, kann mir das Jemand verdenken?“ sagte sie frivol und spöttisch die Achseln emporziehend. „Niemand stirbt gern allein. Der Arzt ist dazu da, daß man bis zum letzten Augenblick Hoffnung aus seinem Zuspruch schöpft.“

Käthe wußte genug. Die Kranke ging nicht mit ihr nach Dresden. Sie wies die Tasse Thee zurück, die ihr Henriette mit hastigen Händen füllte, und zog eine angefangene kleine Stickerei aus der Tasche.


(Fortsetzung folgt.)


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