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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Die Bremerhavener Katastrophe.


Von einem Augenzeugen.


Ein lebhafter Verkehr entwickelte sich in der Morgenfrühe des 11. Decembers in den beschränkten Räumen des Bahnhofs in Bremen: die Passagiere des Postdampfschiffes „Mosel“ warteten des Extrazuges, welcher sie nach Bremerhaven an Bord bringen sollte. Die Stimmung war sehr gedrückt. Erst Tags zuvor hatte man die ersten ausführlichen Nachrichten über die Strandung des „Deutschland“ an der englischen Küste erhalten und den Verlust von mehr als vierzig Menschenleben mit Entsetzen vernommen.

Das Signal zur Abfahrt nach Bremerhaven wurde gegeben, und bald sauste der Zug durch die öden Landschaften zwischen Bremen und seinem Vorhafen; das Bedürfniß nach Unterhaltung machte sich geltend; bange Ahnungen wurden ausgesprochen, getheilt und bekämpft. Da war es vorzüglich ein Passagier, dessen äußere Erscheinung durch außerordentliche Corpulenz bei mittlerer Statur auffiel, der sich lebhaft an dem Gespräch betheiligte. In gebrochenem Deutsch versuchte er die Befürchtungen der Mitreisenden zu beschwichtigen, indem er erzählte, er habe bereits dreißig Mal den Ocean durchkreuzt, ohne jemals einen ernstlichen Unfall erlebt zu haben. Das behäbige, gentile Aeußere des Mannes mit röthlich blondem Vollbart und goldener Brille, die angenehme Art seiner Unterhaltungsweise wirkten Vertrauen erweckend, und in beruhigter Stimmung war bald das nächste Ziel, Bremerhaven, erreicht. Vor der Wartehalle des Norddeutschen Lloyd hielt der Zug; die Passagiere begaben sich eiligst an Bord der „Mosel“, welche in geringer Entfernung im Vorhafen zur Abfahrt bereit lag. Ein freundlicher Empfang erleichterte die ersten Einrichtungen – die Effecten waren an Bord; jetzt noch ein Blick zurück in die Heimath und zum Abschiede vom Festlande. Die gewaltigen Dimensionen des prachtvollen Schiffes, die Ordnung und Pünktlichkeit, mit welcher die letzten Arbeiten vor der Abfahrt erledigt wurden, befestigten die Hoffnung auf „eine glückliche Reise“.

Ein prachtvoller Wintermorgen verklärte die Landschaft vor uns: nach Westen der breite Weserstrom, voll von Treibeis und dennoch durch Schiffe belebt, nach Osten ein dichter Mastenwald und dahinter im hellsten Sonnenschein die stattlichen Häuserreihen von Bremerhaven und Geestemünde. An der Nordseite des Vorhafens ragt der Leuchtthurm empor, und auf der Südseite der Kajenmauer war eine zahlreiche Menschenmenge versammelt. Noch war die Schiffstreppe herabgelassen. Die Schiffsmannschaft ging ab und zu; Arbeiter schafften die letzten Effecten und Colli an Bord; Kaufleute hatten noch Besorgungen zu machen, Passagiere Freunden und Verwandten den letzten Händedruck zum Abschiede zu geben. Auch an Bord ist der größte Theil der Passagiere in der Nähe der Schiffstreppe versammelt. Da kommen noch zwei Wagen mit den letzten Gütern für die „Mosel“, schwere Kisten und Fässer. Es ist halb elf Uhr; das Zeichen mit der Schiffsglocke wird gegeben; die noch am Lande befindlichen Passagiere eilen der Treppe zu; Nichtpassagiere verlassen das Schiff – in demselben Augenblick schießt aus dem dichten Menschenknäuel eine riesige Feuergarbe empor; eine furchtbare Detonation folgt – eine entsetzliche Katastrophe ist hereingebrochen.

Auf der „Mosel“ wurden wir sämmtlich zu Boden geschleudert, und es vergingen Minuten, bis die Unverletzten sich zu erheben vermochten. In der ersten Betäubung wußte Niemand, was geschehen sei. Ein angstvoller Blick über Bord zeigte an derselben Stätte, welche soeben noch das regste, geschäftigste Leben erfüllte, ein Bild, welches an Furchtbarkeit Alles überbietet, was die Phantasie sich erdenken kann, ein Bild des unaussprechlichsten Jammers, welches Menschenaugen je geschaut haben: Menschen, Pferde und Wagen sind verschwunden – ein entsetzliches Leichenfeld breitet sich vor uns aus. Der Jammer und die Wehklagen gräßlich Verstümmelter dringen an unser Ohr; brennende Kleidungsstücke bedecken die zerrissenen Leiber; thränenden Auges wenden wir uns ab – das Elend ist zu groß. Das Bewußtsein, selber dem grauenhaftesten Tode glücklich entkommen zu sein, steigert die fieberhafte Aufregung. Alles eilt der Schiffstreppe zu – sie ist verschwunden. Dem Capitain der „Mosel“ sind die Kleider auf dem Leibe zerrissen; durch den Sturz betäubt und schwerhörig, übergab er das Commando einem Freunde. Drei Schiffsofficiere zählten zu den Schwerverwundeten; zwei Beamte des Norddeutschen Lloyd wurden vermißt. Die „Mosel“ wurde sofort in den Hafen zurückgebracht. Die starken Eisenplanken am Vordertheile waren nach innen gebogen und durch einen Riß bis unter die Wasserlinie gesprengt.

Im ersten Augenblicke glaubte man allgemein an eine Kesselexplosion des naheliegenden Bugsirdampfers „Simson“, dessen Deck ebenfalls zertrümmert war, indeß sehr bald ergab sich, daß unter den zuletzt angekommenen Gütern eine Kiste oder ein Faß mit Sprengstoffen gewesen sein mußte, welche beim Verladen explodirt waren. Da, wo der Wagen gestanden, war ein Loch von drei Meter Durchmesser und zwei Meter Tiefe in die feste Pflasterung des Anlageplatzes gedrückt worden. Die furchtbare Gewalt der Explosion hatte den Wagen, die Kisten und die Schiffstreppe vollständig zertrümmert. Holz- und Eisensplitter brachten, rings umhergeschleudert, in weitem Umkreise Tod und Verderben.

Nicht lange hatte die so nöthige Hülfe auf sich warten lassen. Alles strömte der Unglücksstätte zu, und was thätige Nächstenliebe zu thun vermag, geschah in aufopferndster Weise. Die Leichtverwundeten wurden in die Stadt geführt, den Schwerverwundeten wurde in der nahen Wartehalle von Aerzten der erste Verband angelegt, während man die Leichen und versprengten Körpertheile sammelte und in Körben und Wagen noch dem Barackenlazareth brachte. Noch kannte Niemand den ganzen furchtbaren Umfang der Katastrophe, aber die erste Zählung ergab bereits siebenundfünfzig Leichen und dreißig Schwerverwundete, aber noch fortwährend wurden Leichen und Gliedmaßen aus dem Vorhafen aufgefischt und vermehrten die Zahl der Opfer. Es war ein trauriges, herzzerreißendes Geschäft, die meistens schrecklich entstellten und verstümmelten Leichen zu identificiren. Oft waren es nur zerrissene Ueberbleibsel der Kleidung, eine Brieftasche, ein Ring oder ein anderes zufälliges Kennzeichen, welches den Angehörigen die schmerzliche Gewißheit ihres Verlustes gab. Ergreifende Scenen namenlosen Schmerzes wiederholten sich auf der Unglücksstätte und im Lazareth. Eine Mutter fand statt des schmerzlich gesuchten Töchterchens nur deren Pelzmuff mit den abgerissenen Händchen. Einem Vater wurde der Kopf seines verunglückte Sohnes in’s Haus gebracht; ein Passagier aus Magdeburg suchte lange nach den Resten seines Vaters, der ihm das Geleit gegeben. Eine abgerissene Hand, durch den Ring gekennzeichnet, war Alles, was er der trauernden Familie heimbringen konnte.

Eine Familie aus Bremerhaven, welche einem abreisenden Sohne das Abschiedsgeleit gegeben hatte, wurde besonders hart betroffen: Vater, Mutter, zwei Söhne und zwei Schwiegersöhne waren todt, zwei Töchter schwer verwundet, zwei Verwandte vermißt. – Mehr als zweihundert Wittwen und Waisen trauern an den Särgen der Gemordeten.

Ein Gang durch die Straßen Bremerhavens zeigte auch hier überall Spuren der Verwüstung. In den zunächst gelegenen Gebäuden blieb kein Fenster unzerstört. Thüren wurden aus den Angeln gerissen oder zersplittert, und selbst in größerer Entfernung war kaum ein Haus unversehrt geblieben. Bruchstücke von Fenster- und Spiegelscheiben bedeckten die Straßen nach alle Richtungen hin. Die Bevölkerung war tief erschüttert, die Zahl der unglücklichen Opfer mehrte sich stündlich. Bestürzung und Trauer malte sich auf allen Gesichtern. – Ueber die Ursache der Katastrophe wurde fast allgemein die Ansicht geäußert, daß sträflicher Leichtsinn es versucht, eine Kiste mit Dynamit unter falscher Declaration an Bord zu schmuggeln, und dadurch die Explosion veranlaßt habe.

Gegen Abend eine neue Schreckenskunde von der „Mosel“. Ein Passagier der ersten Kajüte, als W. K. Thomas in die Liste aufgenommen, hatte einen Selbstmordversuch gemacht.

Unmittelbar nach der Katastrophe, während das Schiff in den Hafen zurückgebracht wurde, hatte sich Thomas durch auffälliges

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_036.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)