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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

zu machen, während die andere junge Dame wenige Minuten allein blieb.

Fräulein R. ist seit sechs Jahren als französische Lehrerin in unserem Stifte thätig, und schenkte ich derselben mein volles Vertrauen. Ich schwieg von der Sache, vergaß sie indessen nicht, sondern zeichnete mir einen anderen Fünfundzwanzig-Thalerschein ganz genau und trug denselben während der verflossenen Woche mit mir im Portemonnaie herum.

Am heutigen Nachmittage erschien Fräulein B. wiederum, um Alice zu verschiedenen Besorgungen in der Stadt abzuholen. Ich war in meinem Zimmer am Schreibtische mit Ordnen von Rechnungen beschäftigt, während mein Schlüsselkorb mit dem Portemonnaie im Salon, welchen Jedermann durchschreiten muß, um zu mir zu gelangen, auf dem Claviere stand. Fräulein R. trat in mein Zimmer, um mir anzuzeigen, daß sie ihre Freundin auf einige Stunden begleiten werde, während Fräulein B. im Salon verblieb. Ich trat an’s Fenster, und als die Damen das Haus verlassen, eilte ich in den Salon, öffnete mein Portemonnaie – der gezeichnete Schein fehlte!!

Schnell entschlossen, zog ich die Glocke und schickte den eintretenden Diener eilig dem Fräulein R. nach. Ich ließ sie bitten mit ihrer Gefährtin auf einige Minuten zurückzukehren. Bald erschienen beide Damen bei mir, und ich theilte ihnen mit, daß mir seit acht Tagen fünfundsiebenzig Thaler, in drei Fünfundzwanzig-Thalerscheinen entwendet seien, und zwar jedesmal, wenn Fräulein B. Fräulein R. besucht hätte, und daß ich mich gezwungen sehe, der Polizei die Anzeige zu machen und Fräulein B. verhaften zu lassen, da ich nur sie in Verdacht habe.

Alice war vor Schreck halb wahnsinnig über das Verbrechen ihrer Freundin, während Fräulein B., die Angeklagte selbst, mit der größten Ruhe und Dreistigkeit bestritt, jemals aus meinem Zimmer etwas entwendet zu haben. Leider muß ich die Sache der Polizei zur weiteren Untersuchung übergeben, und hat der Schutzmann P. Fräulein B. von meinem Hause abgeholt und zur Wache des 2. Polizei-Reviers abgeführt.

Berlin, den 6. December 187..

E. von S …, Oberin.“     

Der Schutzmann erklärt zu Protokoll:

Heute Nachmittag vier Uhr rief man mich zu der Frau Oberin von S., woselbst ich die Angeklagte Fräulein B. vorfand, welche mir als des Diebstahls eines Fünfundzwanzig-Thalerscheins dringend verdächtig bezeichnet wurde. Fräulein B. leugnete hartnäckig, den Schein entwendet zu haben, und betheuerte fortwährend ihre Unschuld, da aber alle Indicien gegen sie waren, so sah ich mich genöthigt, sie zur Wache des 2. Polizei-Reviers zu sistiren. Auf dem Wege dorthin zeigte mir Fräulein B. ihr Portemonaie, in welchem sie ungefähr zehn Thaler in Silber und Papier bei sich führte, jedoch keinen Fünfundzwanzig-Thalerschein. Auch bat sie mich, hinter ihr zu gehen, damit ich bemerken könne, ob sie irgend etwas von sich werfe. Dies that ich auch, habe aber nicht gesehen, daß die Angeklagte sich irgend eines Gegenstandes entledigte. Weiter habe ich nichts anzuführen.

Berlin, den 6. December 187..

P……, Schutzmann.“     

Der Bericht schloß mit den gewöhnliche Formen, und fand ich, Alles in Allem erwägend, daß die Sache allerdings nicht sehr günstig für Fräulein B. lag.

Mein alter G. hatte mir inzwischen die „kleine Weiße“ in’s Zimmer gebracht, leise auftretend, da er mich im Lesen vertieft fand, und nachdem ich meinen trockenen Gaumen durch den kühlen Trank erfrischt, klingelte ich und ließ die Angeklagte vorführen.

Bleich wie der Tod, trat mit gesenkten Blicken ein schlankes Mädchen von angenehmen Formen und in gewählter, aber prunkloser Kleidung in mein Zimmer, der mein criminalistisch geübtes Auge sofort ansah, daß, wenn sie den Diebstahl wirklich begangen habe, er jedenfalls ihr erster Schritt auf der Verbrecherlaufbahn sei.

Mit großem Ernst, doch ohne Härte redete ich sie an und ermahnte sie eindringlich, nicht durch hartnäckiges Leugnen ihre Sache zu verschlimmern, sondern offen und wahr einzugestehen, daß und auf welche Weise sie der Frau von S. das Geld entwendet habe. Fräulein B. blickte auf, und ich sah in zwei tief dunkle Augen von großer Schönheit, die mit traurigem Ausdruck auf mir ruhten. Hoch erröthend stand sie da, als ich sie scharf und forschend fixirte.

Mit angenehmer sonorer Stimme erwiderte sie endlich, indem zwei große Thränen langsam die wieder bleich gewordenen Wangen herabrollten: „Auch Ihnen, Herr Commissarius, kann ich nichts anderes eingestehen, als was ich bereits seit dem schrecklichen Augenblicke gesagt habe, wo mir dieses Verbrechen zur Last gelegt wurde – ich bin unschuldig an demselben. Offen und wahr will ich Ihnen von mir und meiner heutigen Lage im Hause der Frau von S. erzählen. Vielleicht finden Sie darin etwas, was Licht in diese dunkle Sache bringt und die Schande von einer Unschuldigen abwälzt. Ich heiße Margot B. und bin die Tochter eines begüterten Grundbesitzers in der Nähe von Genf. Seit einem Jahre halte ich mich hier in Berlin auf, um Musik zu studiren, und wohne im Damen-Pensionat der verwittweten Majorin A. in der K.-Straße. Seit drei Monaten bin ich, unter Zustimmung meiner Eltern mit dem Musikdirector F. verlobt. Fräulein R. kenne ich aus einem Genfer Institut, in welchem sie Lehrerin, ich Schülerin war.

Als ich nach Berlin kam, suchte ich sie in dem adligen Fräuleinstift der Frau von S. auf, woselbst sie seit sechs Jahren Lehrerin ist, wurde auch freundlich von ihr aufgenommen und der Oberin vorgestellt. Wir verkehren seit diesem Tage, soweit ihre und meine Zeit es erlaubt.

Heute vor acht Tagen kam ich zu ihr, um sie zu einem Spaziergange abzuholen, wozu sie auch bereit war. Sie kleidete sich an, und wir gingen in’s Wohnzimmer der Oberin, welcher Fräulein R. jedes Mal Mittheilung machen muß, wenn sie das Stift verläßt. Wir fanden Frau von S. nicht in ihrem Zimmer, hörten sie aber in der Nebenstube mit den Stühlen rücken. Ich blieb in ersterem, während Fräulein R. zu ihr hinein ging. Wir hatten bereits den Salon verlassen, nachdem meine Freundin zu mir zurückgekehrt war, als Letztere plötzlich ausrief: ‚O, ich habe etwas vergessen; warten Sie, bitte, einen Augenblick!‘ Dann lief sie schnell durch den Salon in das Wohnzimmer der Oberin zurück, während ich im Corridor wartete, woselbst sie mich nach wenigen Secunden wieder traf. Wir machten darauf einen weiten Spaziergang durch den Thiergarten und kehrten Jede in ihre Wohnung zurück.

Im Laufe der Woche kam Fräulein R. eines Abends in unser Pensionat, um der Inhaberin, Majorin A., von der sie sich im October fünfzig Thaler geliehen hatte, dreißig davon zurückzubringen, und machte mir dabei den Vorschlag, am heutigen Tage mit ihr kleine Einkäufe zur Weihnachtsbescheerung zu besorgen, was ich auch zu thun versprach.

Zu diesem Zwecke begab ich mich heute Nachmittag zwischen drei und vier Uhr zu ihr. Ich fand sie in ihrem Zimmer, meiner harrend, und wir gingen wie gewöhnlich zu der Oberin hinüber. Dieselbe war in ihrem Wohnzimmer am Schreibtisch beschäftigt; ich machte ihr nur mein Compliment und trat in den Salon zurück und dann auf den Corridor hinaus, da Fräulein R. noch einige Minuten mit der Dame sprach. Alsdann trat sie etwas eilig zu mir heraus, die ich bereits die Treppe erreicht hatte.

Als wir ungefähr zwanzig Schritte vom Hause entfernt waren, kam uns ein Diener athemlos nachgelaufen, mit der Aufforderung, zurückzukehren; wir folgten, und beim Eintritt in das Zimmer der Oberin wurde mir von derselben der furchtbare Vorwurf gemacht: ‚ich habe sie bestohlen‘.“

Hier schlug das junge Mädchen schluchzend beide Hände vor’s Gesicht, und nachdem sie wieder etwas ruhiger geworden war, setzte sie hinzu. „Ich habe Ihnen nun Alles der Wahrheit gemäß erzählt, Herr Commissarius, und will nur noch die Bitte hinzufügen, nehmen Sie sich meiner an, daß meine Unschuld an’s Tageslicht kommt, denn ich bin gewiß keine – Diebin.“

Ich mußte mir eingestehen, daß ich vom ersten Augenblicke an, da ich sie sah, ein ungewöhnliches Interesse für die junge Dame gefühlt hatte, doch ich war bereits im Dienste alt geworden und meinem Grundsatze treu geblieben, mich nie vom äußeren Scheine bestechen zu lassen.

Ich verriet der Angeklagten daher auch nicht, daß ich wohl zu ihren Gunsten gestimmt sei, sondern ermahnte sie nochmals eindringlich, die Wahrheit zu gestehen, um ihre Strafe

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 869. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_869.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)