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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

„Nein, Eugen wollte es,“ meinte der jüngste Knabe.

So beschuldigten sich die muthwilligen Kleinen gegenseitig der Neugierde, einen Blick durch’s Schlüsselloch in das Zimmer zu thun, wo der Tannenbaum stand, der Tannenbaum, dieser stete Mittelpunkt aller Kinderweihnachtsfreuden.

Contraste des Lebens! Die drei Kinder waren, wie der Vater, schwarz gekleidet – in Trauer um die Mutter, die „zum lieben Gott gegangen war“, „wo es viel schöner wäre als auf der Erde“, und „wo es immer Weihnacht wäre“, wie der kleine Curt meinte.

Das hatte ihnen die alte Magd des Hauses erzählt, und der Vater dem frommen Trost nicht widersprochen. Die alte Magd hatte auch hinzugefügt, wenn sie, die Kinder, recht artig wären, so käme die Mutter nach einigen Jahren wieder und brächte ihnen vom Himmel viel Schönes zu Weihnacht mit. Dabei hatten sich die Kleinen beruhigt.

Derselbe vollständige Comfort wie früher herrschte noch in Brömsel’s Wohnzimmer. Das Feuer prasselte so lustig im Kamin, wie das letzte Mal, als ich der Gast der Familie gewesen war. Und dennoch herrschte in dem Raum ein Etwas, das sich nicht beschreiben läßt – eine Leere. Es war, als ob die Wände eine „Stimmung“ reflectirten.

„Geht hinunter in die Kinderstube, Kinder!“ sprach Brömsel. „Ihr wißt ja, wir müssen auf ‚Onkel Schmidt‘ warten, bis der Tannenbaum angezündet werden kann.“

Die Kleinen gehorchten. Bald darauf schallte ihr fröhliches Scherzen und Jubeln vom Parterre zu uns herauf, und ein gelegentlicher gellender Ton verrieth, daß die Knaben in ihrer Freude recht ausgelassen waren und vielleicht gar akrobatische Uebungen an Tischen und Stühlen anstellten.

Brömsel holte aus einem Eckschrank eine Karaffe Portwein und zwei Gläser und stellte sie auf den Sophatisch.

„Das pflegte sonst Henriette zu thun,“ sprach er. – „Es waren dann drei Gläser. Jetzt sind es deren nur zwei.“

„Ich bitte Dich, Brömsel, befriedige endlich meine Theilnahme an Deinem Schicksal!“ sagte ich.

„So höre denn!“ nahm der Justizrath das Wort. „Es ist ebenso einfach wie kurz. Meiner Frau war eine Erbschaft von einem Verwandten in San Francisco zugefallen. Die Regulirung derselben hätte vielleicht Jahre in Anspruch nehmen können, wenn wir nur einen Bevollmächtigten mit der Wahrung unserer Interessen beauftragt hätten. Mich hielten meine amtlichen Geschäfte hier fest. Da erklärte meine Henriette eines Tages, sie wolle selbst die Reise machen. – Eure Hamburger Frauen sind nicht wie die des Binnenlandes. Das Leben und Treiben der großen Seestadt giebt ihnen andere Ansichten von der See und den Seereisen. Eine Reise nach New-York ist eine ‚Ueberfahrt‘, und Henriette hatte diese Ueberfahrt als junges Mädchen schon zweimal zum Vergnügen gemacht, um ihre dort verheirathete Schwester zu besuchen. Sie lachte geradezu, als ich ihr mein Bedenken äußerte. ‚Was ist’s denn?‘ sagte sie, ‚eine Ueberfahrt nach New-York. Von da mit einem bequemen Dampfer nach Aspinwall. Dann ein paar Stunden auf der bequemen Eisenbahn nach Panama und von dort in acht bis zehn Tagen wieder auf einem Dampfer nach San Francisco.‘ Henriette spricht fertig englisch, und ich verstehe nur wenig von dieser Sprache. Kurz, sie wußte mir die Sache so plausibel zu machen, daß ich mich ordentlich schämte, ihr zu widersprechen.

Anfangs Mai reiste sie ab. Ihre Mittheilungen über die Reise nach New-York, Panama und San Francisco beruhigten mich vollständig. Das beste Wetter, die schnellste ‚Ueberfahrt‘ und die rasche Regulirung unserer Angelegenheit wurden mir gemeldet. Die Erbschaft war erhoben. Die mercantile Unsicherheit, welche herrschte, bewog Henriette, das ganze Vermögen, das ihr zugefallen war, in Banknoten statt in Wechseln zu erheben. Die Frau dachte an Alles. Ein paar Fallissemente, wie sie an der Tagesordnung waren, und Alles wäre verloren gewesen. Sie meldete mir, daß sie mit dem Dampfer ‚Ohio‘ von San Francisco abreisen werde. Ich konnte fast den Tag ihrer Ankunft in Europa berechnen. Heute vor vier Wochen –“

„Ja, mit dem ‚Ohio‘,“ wiederholte Brömsel, als er mich erschrecken sah. „Die Passagiere dieses Dampfers kamen wohlbehalten in Panama an. Gesund und munter fuhren sie per Eisenbahn nach Aspinwall. Dort stiegen sie an Bord des Dampfers ‚Central–Amerika‘. Du hast das Schicksal dieses Schiffes in den Zeitungen gelesen. Von nahe zweihundert Menschen nur sechszehn gerettet. Henriette war nicht unter den Geretteten. Aber“ – und Brömsel’s Stimme war hier dem Ersticken nahe – „unter der Namensliste der Verunglückten las ich – ihren Namen. – –

Die Erbschaft ist theuer genug bezahlt. Ich danke Gott, daß sie mit zu Grunde gegangen ist,“ fügte er nach einer langen Pause bitter hinzu.

Brömsel schwieg. Ich fühlte, daß ich die Verpflichtung hatte, Etwas zu sagen, aber ich wußte nicht was. Ich kannte die näheren Details jener Katastrophe und wußte, daß ein amerikanischer Schooner und eine englische Barke, welche sich in der Nähe des untergegangenen Dampfschiffes befanden, die ganze Nacht und den halben folgenden Tag in der Gegend des Unfalles gekreuzt hatten, um von den Opfern zu retten, was noch zu retten war, und ich konnte mit dem besten Willen meinem Freunde auch nicht den leisesten Hoffnungsschimmer zeigen. Die spätere gewisse Enttäuschung wäre noch fürchterlicher gewesen, als die jetzige schreckliche Gewißheit.

„Trage es so gut Du kannst, lieber Freund!“ rief ich endlich und drückte ihm die Hand. „Trost kann ich Dir nicht geben. Du hast verloren, was Dir nicht zu ersetzen ist.“

Brömsel brach in lautes Schluchzen aus.

Ich ließ ihn gewähren. Thränen erleichtern; Thränen sind – ich möchte sagen eine Wollust des Schmerzes.

Wohl eine Viertelstunde gab sich Brömsel dem Ausbruche seiner Stimmung hin. Wir Beide hörten es nicht, daß draußen ein Wagen vorgefahren war. Nur nach einer kurzen Weile darauf vernahmen wir wieder den erneuerten Lärm, der aus der Kinderstube im Erdgeschosse jetzt stärker zu uns herauftönte.

Bald darauf erschien die Magd im Zimmer und ersuchte mich, herunter zu kommen. Es sei ein Bote aus dem Hôtel da, der mich persönlich zu sprechen wünsche.

Ich folgte der Aufforderung und – doch ich will meiner einfachen Erzählung nicht vorgreifen. – –

„Was ist Dir?“ rief mir Brömsel entgegen, als ich wieder in’s Zimmer trat.

„Es ist weiter nichts,“ antwortete ich. „Eine unangenehme Nachricht von Haus, Familienstreitigkeiten. Ich werde morgen früh abreisen müssen. Doch reden wir von etwas Anderem!“

„Wovon?“ gab Brömsel zurück.

„Ja, wovon?“ versetzte ich, mit Gewalt die Aufregung, in der ich mich befand, niederkämpfend.

„Mein Freund Schmidt muß den Zug versäumt haben,“ sagte Brömsel. „Es ist bald sieben Uhr. Er müßte längst hier sein. Ich habe vergessen Dir mitzutheilen, daß er in Geschäften nach Hamburg gereist ist und heute wieder zurück sein wollte, damit ich an diesem Abend nicht allein sei.“

„Er wird Dir oder den Kindern vielleicht noch ein Geschenk besorgen wollen, hat die Besorgung in Hamburg vergessen, wie das oft auf Reisen geschieht, und macht sie nun hier am Ort,“ meinte ich.

„Nein,“ versetzte Brömsel; „Schmidt ist in dieser Hinsicht ein Pedant. Er hat den Zug versäumt und trifft erst morgen ein. Es ist gut, daß Du hier bist,“ fügte er hinzu. „Aber Du bist ja nachdenklich.“

„Ach!“ rief ich, mir die Stirn reibend, „es ging mir da so ein Gedanke durch den Kopf – aber – doch nein! es wäre zu phantastisch, ja, geradezu romanhaft! Schriftstellerphantasie!“

Brömsel lächelte traurig.

„Vielleicht gab Dir mein Loos Stoff zu einer Novelle.“

„Vielleicht,“ versetzte ich, „wir Schriftsteller sind aus dem Stamme Nimm. Wo wir ein Sujet oder nur dessen Gerippe finden, präpariren wir den Fund, schmücken ihn mit allerlei Erfindungen aus und bringen ihn dann auf den Büchermarkt.“

Abermals schallte ein lautes Lachen und Jubeln aus der Kinderstube zu uns herauf.

„O ja,“ meinte Brömsel düster; „Ihr macht sogar die Todten wieder lebendig und Du hättest Phantasie genug, mir meine Henriette aus dem Grunde des Meeres wieder hervorzuholen. – Doch es wird spät. Ich will die Kerzen am Tannenbaume anzünden. Wollte Gott, die Christbescheerung wäre erst vorüber!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 854. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_854.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)