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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

doch noch etwas zu früh. Die Belagerung von Paris durch die Deutschen mußte erst noch vorangehen, um die blau-weiß-rothe Mehrheit der Pariser auf jene Stufe von Begriffeverwirrung und Stumpfsinn herabzudrücken, auf welcher angelangt sie die Tyrannei der rothen Minderheit sich aufhalsen ließ.

Für diese Minderheit lagen die Sachen nach dem Abschlusse des Waffenstillstandes und des Präliminarfriedens von Versailles außerordentlich günstig. Als wäre er ihr treufleißiger Mandatar gewesen hatte Jules Favre gegenüber den Wünschen und Warnungen der deutschen Unterhändler es durchgesetzt, daß die Pariser Nationalgarden ihre Waffen behalten durften. Die Mehrzahl dieser Bürgerwehr bestand aber im März von 1871 aus revolutionären Elementen, welche das während der Belagerung der Stadt durch die Deutschen mehr oder weniger ernst betriebene Soldatenspiel um so lieber weiterspielen wollten, als damit der Weiterbezug des seit dem September von 1870 gewohnt und liebgewordenen Tagessoldes von anderthalb Franken selbstverständlich verbunden sein müßte, während Weib und Kind ihren Lebensunterhalt aus den Staatsmagazinen bezögen. So verfügten denn die Rothen, nachdem sie der Gewalt sich bemächtigt hatten, über eine leidlich organisirte Streitmacht von zweihundertfünfzig mehr oder weniger starken Bataillonen, deren zuverlässigste aus den Wehrmännern der Faubourgs Montmartre, Villette, Belleville, Menilmontant, Montrouge, La Chapelle und Glacière zusammengesetzt waren.

Wenn diese seit Monaten aller Arbeit und Häuslichkeit entwöhnten, von allen Begehrlichkeiten, wie der Müssiggang sie ausbrütet, erfüllten, bildungslosen, leichtgläubigen, durch die Wahnorakel verrückter oder gaunerischer Clubredner bis zum Irrsinnn verhetzten Menschen sich zählten; wenn sie, wie sie ja thaten, im Gambetta-Bülletinsstil einander vorlogen, Frankreich und Paris seien nicht besiegt, sondern nur an die „Prussiens“ verraten und verkauft worden, verrathen und verkauft von den Imperialisten, Legitimisten, Orleanisten und Bourgeoisrepublikanern, von den Babinguet, Bazaine, Thiers und Favre, wenn sie phantasirten, die alte Gesellschaft habe augenscheinlich einen ehrlosen Bankerott gemacht, die große Liquidation sei demnach vorzunehmen, um eine neue, die rothe, die atheistische und die communistische Gesellschaftsfirma zu gründen, den Vierten-Stand-Staat, die proletarische Commune; wenn zu diesen heimischen Elementen und Motiven eines radikalen Umsturzes noch die „catilinarischen Existenzen“ hinzukamen, welche aus allen Ecken und Enden der Erde in der prächtigen Weltkloake Paris zusammenflossen, alle ihre Laster und Leiden, ihre Illusionen und Enttäuschungen, ihre Gewissensbisse und Rachegefühle, ihre Begierden und Hoffnungen in diese ohnehin schon von höllischem Schwefeldunst erfüllte Atmosphäre ausathmend: – ja, so war es kein Wunder, sondern nur die natürliche Wirkung natürlicher Ursachen, daß die Wetterwolke in das furchtbare Märzgewitter ausbarst, und entsprach es der Logik der Sachlage, daß der französische Größenwahn sich vermaß, Paris, Frankreich, Europa, die Welt umzuwandeln und die Menschheit unter der rothen Fahne marschiren zu machen.

Mit alledem ist das Register der Ursachen vom weltgeschichtlichen Märzkrach des Jahres 1871 noch nicht erschöpft. Man muß in dieses Register noch einstellen das Mißtrauen, den Zorn und Ingrimm, womit tausende, hunderttausende von Parisern, die keineswegs zu den Rothen gehörten, auf die in Versailles tagende Nationalversammlung blickten, welche „Bauern- und Krautjunkerversammlung“ nicht allein in ihrer entschiedenen Mehrheit royalistisch gesinnt war, sondern auch das „Verbrechen“, ja den „Wahnsinn“ verübt hatte, Paris, die „heilige Stadt“, das „Centrum des Weltalls“, die „Weltleuchte“ mit dem politischen Interdict zu belegen. Sodann ist mit Betonung auf das vom Reichskanzler Bismarck im deutschen Reichstage gesprochene Flügelwort zu verweisen: „In der Pariser Commune war ein Kern von Vernunft, nämlich das Verlangen nach einer Gemeinde-Ordnung, wie solche in Deutschland existirt.“ Monsieur de Mazade begeht einen absichtlichen oder unabsichtlichen Irrthum, wenn er in seinem Buche „La guerre de France“ (II, 461) dieses Wort als eine „plaisanterie teutonne“ (einen deutschen Scherz) bezeichnet. Der Reichskanzler meinte es ernst, und seine Aeußerung signalisirte nur eine geschichtliche Thatsache, diese nämlich, daß unter den Motiven der Insurrection vom März 1871 ganz unzweifelhaft auch das Verlangen sich befand, die unheilvollen Fesseln einer despotischen, aufsaugenden Centralisation, wie das Ancien Regime, der Convent und Napoleon sie Frankreich auferlegt hatten, endlich zu brechen und der erdrückenden Staatsallmacht gegenüber ein selbstständiges Gemeindeleben zu pflanzen und zu pflegen. Leider ist sofort beizufügen, daß aus diesem vernünftigen Gedankenkerne nur die brutale Unvernunft der Thatsache hervorwuchs, daß die „Bürger“-Communisten von 1871 es für selbstverständlich ansahen, die „Commune“ Paris müßte und würde Frankreich ebenso souverän und despotisch beherrschen, wie die Hauptstadt zur Zeit Ludwigs des Vierzehnten, zur Zeit des Convents, zur Zeit Napoleons des Ersten und des Dritten das Land beherrscht hatte. Wäre sie nicht dieser Meinung gewesen, wie hätte sie es wagen können, ihren Willen, den Willen einer Handvoll Abenteurer, dem Gesammtwillen der Nation, welcher sich mittels der Wahlen zur Nationalversammlung – der freiesten Wahlen, die jemals in Frankreich stattgefunden – soeben ganz deutlich und bestimmt ausgesprochen hatte, geradezu entgegenzusetzen? „Wir kümmern uns den Teufel um die Provinzen,“ gestand der Hauptkyniker der Commune, Citoyen Rigault.

Noch ist aber zur Wurzelursache von 1871 hinabzusteigen. Denn Albernheit wäre es, zu glauben, das Problem dieser Erscheinung könnte gelöst werden mittels des einfachen Satzes, eine durch das Zusammenwirken unerhörter Umstände begünstigte Bande von Narren und Gaunern habe das rothe Quartal gemacht. Allerdings ist es wahr, daß Narrheit und Gaunerei stets zu den Großmächten auf Erden gehört haben und stets dazu gehören werden. Und nicht weniger wahr ist, daß den ganzen Verlauf der sogenannten Weltgeschichte entlang Hunderttausende und Millionen von Menschen mit Begeisterung, mit Fanatismus für blanke Narrheiten, für handgreifliche Gaunereien in den Tod gegangen sind, als für Ideale und Idole. Warum? Weil sie daran glaubten. Nicht das Sein der Dinge bestimmt ihren Werth, sondern der Schein, und nicht die Wahrheit, sondern der Credit einer Idee regelt ihre Wirksamkeit. Nur die rückwärts gewandte Parteibornirtheit könnte bestreiten wollen, daß tausende der Communarden von 1871, indem sie ihr Leben für die Commune ließen, für die Sache ihres Volkes, für die Sache der Menschheit zu sterben glaubten.

Schon das muß in wissenden und ernstprüfenden Menschen das Gefühl erregen, daß es sich hier keineswegs nur um ein leichtfertig angehobenes und mit bestialer Wildheit durchgeführtes Abenteuer handelte, sondern um eine geschichtliche Nothwendigkeit. Natürlich soll damit nicht etwa bestritten werden, daß selbstsüchtige Berechnungen und wüste Leidenschaften dabei mitgespielt haben, wie das ja bei der Inscenirung geschichtlicher Nothwendigkeiten allezeit und überall so war, ist und sein wird. Denn der Mensch, wie er nun einmal ist, macht die Geschichte, und sie ist ja auch darnach.

Was für eine geschichtliche Nothwendigkeit stand nun im März von 1871 in Frage? Welche Entwickelungsidee rang nach Verwirklichung?

Die Idee der socialen Revolution.

Und diese wäre eine geschichtliche Nothwendigkeit?

Nicht minder gewiß, als die politische Revolution des achtzehnten Jahrhunderts eine geschichtliche Nothwendigkeit war. Das fünfzehnte Jahrhundert hatte den Samen derselben gestreut; im sechszehnten ging er auf, das siebenzehnte zeitigte die Saat, und am Ende des achtzehnten wurde „mit Eisen und Blut“, wie das herkömmlich bei solchen Geschäften, die reife Ernte eingethan: – die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der verschiedenen Volksklassen. Noch während diese Arbeit im Gange, ist die Thränensaat der socialen Revolution dem Boden der Zeit anvertraut worden. Das neunzehnte Jahrhundert sodann hat diese Saat üppig aufschießen gemacht. Prozenthum und Pauperismus, der pralende Uebermuth des Geldsackes und der brutale Neid des Bettelsackes sind die treibenden Kräfte. Die riesenhafte Entwickelung der Großindustrie und die mit derselben naturnothwendig verbundene Züchtigung eines millionenzähligen Proletariats steigern von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde die sociale Krisis, und diese wird unausweichlich zur großen Katastrophe führen, zur größten der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 835. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_835.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)