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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Vorspruch.[1]
zu der Historie „Das rothe Quartal von 1871“.
Von Johannes Scherr.

Aschenbrödel Wahrheit muß, schlechtgenährt und schlechtgekleidet, im Hause der Menschheit schwere Arbeit verrichten, während Lüge und Täuschung, in Sammet und Seide gehüllt, mit Schminke und Juwelen bedeckt, in der Welt die großen Damen spielen, beschmeichelt, umworben, geliebkost. In der Dichtung kommt zuweilen das arme Aschenbrödel schließlich zu Ehren, in der Wirklichkeit niemals. Denn wenn zu Zeiten das Feuer der Thatsachen den Menschen allzu fühlbar auf den Nägeln brennt, beeilen sie sich, die Kühlsalbe der Illusion darauf zu streichen um ja nicht zum vollen Bewußtsein der Wahrheit zu kommen. Sie wollen nicht belehrt, sie wollen nur belogen sein.

Daher die traurig geringe Wirksamkeit der strengen Lehrerin Geschichte und daher auch die große Volksbeliebtheit der Fabulirerin Legende, welche sich dem Täuschungsbedürfnisse der Menschen gemäß herauszuschminken und auszustaffiren versteht.

So hat denn auch die Geschichte der großen französischen Staatsumwälzung am Ende des achtzehnten Jahrhunderts nur geringe Lehrkraft entwickelt, während die Legende der Revolution ungeheure Wirkung that und bis zur Stunde noch thut.

Der erstgeborene Wechselbalg dieser Legende ist der französische Größenwahn.

Zwar hat, wie jedermann weiß, die Beeiferung, womit vom Mittelalter ab Europa den französischen Moden huldigte und nachlebte, die im keltisch-romanischen Wesen wurzelnde Nationaleitelkeit der Franzosen schon vordem sattsam gestärkt und gehätschelt. Seit der Zeit Ludwigs des Vierzehnten vollends war die gesammte vornehme Bildung in unserem Erdtheile zur mehr oder weniger tölpischen Aeffin der französischen geworden, so stupid, so niederträchtig sich gebarend, daß jeder beliebige französische Friseur oder Confiseur außerhalb Frankreichs als Culturträger und Civilisator sich fühlen konnte und durfte. Aber das volle Grande-Nation-Bewußtsein, der hoch- und höchstgradig-größenwahnsinnige Dünkel und Uebermuth überkam die Franzosen doch erst dann, als sie wahrnahmen, daß ihre Nachbarn einfältig genug waren, zu wähnen, sie, die Franzosen, brächten ihnen auf der Bajonnette Spitzen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, während die Bringer dieser schönen Sachen in Wahrheit die Nachbarbrüder brandschatzten, ausraubten und schließlich annectirten und tyrannisirten.

Ja – wundersam zu sagen! – sogar über diese brutale Thatsache trug es die gleißende Legende von der befreienden und civilisirenden Mission Frankreichs davon.

Also konnte es gar nicht fehlen, daß sich im französischen Nationalgehirne die Wahnidee fixirte, Frankreich sei der Mittelpunkt der Welt, Paris aber als Mittelpunkt Frankreichs sei die „heilige Stadt“, sei die „Weltleuchte“, sei „Kopf und Herz der Menschheit“. Demzufolge bezweifelte kein richtiger Franzose, daß das Universum eigentlich an der Seine läge und daß nur Frankreich das Genie und das Recht hätte, zu denken, zu wollen und zu befehlen.

Wissende werden bezeugen, daß dieser Satz keine Uebertreibung enthalte; Unwissende mögen die Bestätigung desselben in den Büchern nachsuchen, welche Legendariers wie Thiers, Blanc und Michelet über die französische Revolution verfaßt haben. Nicht das wirklich Heilsame, nicht das wahrhaft Große, was die Revolution gewollt und vollbracht hat, wird in diesen Büchern nach Gebühr betont und gefeiert, nein! wohl aber die größenwahnsinnige Einbildung vom Privilegium und Monopol Frankreichs, stets „an der Spitze der Civilisation zu marschiren“. Im übrigen ist es ja bloß gerecht, zu sagen, daß nicht etwa die Zeitgenossen, die Augen- und Ohrenzeugen, die Mithandelnden und Mitleidenden der Revolution die unheilvolle Legende derselben aufgebracht haben. Man lese nur die zeitgenössischen Berichte von Mercier, Beaulieu, Toulangeon, Lacretelle, Jullian, Prudhomme, Nodier und Anne Louise Germaine de Staël. Ursprung und Wachsthum der revolutionären Legende ging im Schooße der liberalen Opposition vor sich, welche dem restaurirten Bourbonenthrone den Krieg machte. Einer der publicistischen Leiter dieser Opposition, Mignet, hat in seiner Geschichte der Revolution der liberalen Mythenbildnerei den Stempel seiner Autorität aufgedrückt. Auf der von ihm eröffneten Bahn schritten die oben namhaft gemachten Mythenschreiber immer weiter und kecker vor. Die also groß gefütterte Legende der Revolution hat dann, verbunden mit der durch Ségur, Béranger, Thiers und andere aufgeschwindelten Legende des Napoleonismus, dem französischen Liberalismus jahrelang als ein vielgehandhabtes und vielwirksames Oppositionsmittel gedient.

Aber die Parteien, welche hinter der liberalen sich erhoben, zogen aus den Prämissen der Revolutionsmythe andere Schlußfolgerungen, als die parlamentarisch-konstitutionelle Opposition wollte und wünschte. Die Radikalen, die orthodoxen Republikaner schnitten sich aus dem Legendenbuch der Revolution das Kapitel vom Jahre 1793 als den Lieblingsgegenstand ihrer Verehrung und Nachahmungsbegierde heraus. Sie wähnten demzufolge, vom Mittelpunkte der Welt, von Paris aus, mittels des Evangeliums Sancti Jakobi ganz Europa revolutioniren und republikanisiren zu können, – das sei ihre Mission. Den verschiedenen Sekten der Socialisten und Communisten, welche Saint Simon, Fourier, Cabet und Blanc herangezogen hatten, genügte aber das bei weitem nicht. Sie lasen aus der revolutionären Legende noch ganz anderes heraus. Nämlich, daß alles Bestehende nur werth sei, vernichtet zu werden, daß demnach die europäische Gesellschaft zu einem ungeheuren Trümmerhaufen zusammengeworfen werden müsse, damit sodann aus dem mittels der absoluten Gleichheitwalze abgeplatteten Ruinenfeld ein socialer Neubau errichtet werden könne, in welchem es keinen Gott und keinen König, keinen Staat und keine Kirche, kein Eigenthum und keine Ehe, keine Familie und kein Erbrecht, keinen Reichthum und keine Armuth mehr gebe.

Noch auf einen weiteren Unterschied ist aufmerksam zu machen. Die radikalen Politiker hielten das Dogma des französischen Größenwahns stramm aufrecht, so stramm, daß Republikaner von der Sorte der Quinet und Gambetta noch unmittelbar vor 1870 der Ueberzeugung waren, vor Begründung der republikanischen Völkersolidarität müßte noch ein Krieg geführt werden, um das ganze linke Rheinufer für Frankreich zu erobern. Das sollte dann allerdings, meinten die Herren, der letzte Krieg sein. Die französischen Socialisten und Communisten dagegen gaben sich mitunter ernsthafte Mühe, mit allen übrigen „verfaulten“ Standpunkten auch den des größenwahnsinnigen Chauvinismus zu überwinden. Wenn man darauf ausgeht, die ganze Menschheit in einen Brei zusammenzurühren, muß man doch anstandshalber ein bißchen kosmopolitisch schillern. Sehr wahrscheinlich behielten sich die französischen Socialisten und Communisten im Geheimen das Privilegium vor, in diesem Menschheitsbrei das Gewürze vorzustellen, aber öffentlich thaten sie mehr und mehr weltbürgerlich, namentlich dann, als, von 1864 an, die socialistischen Sekten Frankreichs bewußt oder unbewußt den Losungen gehorchten, welche der „Generalrath“ oder vielmehr das „Dirigirende Comité“ des „Internationalen Arbeiterbundes“ von London ausgehen ließ.

Daß, warum und wie Napoleon der Dritte der Internationale und des Socialismus als Hilfemittel seiner Politik sich bediente, ist allbekannt. Ebenso, daß diese von seiten des zweiten Empire empfangene Gunst die socialistisch-internationale Propaganda in Paris außerordentlich erleichterte und erfolgreich machte. Bei dem Sturze des Kaiserreiches fühlten sich demzufolge die „Rothen“ – diese Farbebezeichnung will ich fürder der Wortkürze halber für die socialistisch-communistisch-internationale Partei gebrauchen – stark genug, handelnd auf den Plan zu treten, um sich der Herrschaft über Paris und damit selbstverständlich über Frankreich zu bemächtigen. Aber es war

  1. Wir übergeben hiermit unseren Lesern den Prolog zu einer Reihe von Artikeln über die Pariser Commune, die unser geehrter Mitarbeiter, Professor Johannes Scherr in Zürich, unter dem Titel „Das rothe Quartal“ mit dem kommenden Jahrgange unseres Blattes beginnen wird.
    D. Red. 
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 834. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_834.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)