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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


werden soll – nur in geschickter Weise der Säge hinzuhalten hat. Dort dreht sich das feilende Rad; auf dem Tische vor dem Arbeiter liegt ein Haufen metallener Rädchen; er hat ein jedes derselben der für ihn arbeitenden Maschine so nahe zu bringen, daß sie die Zähne hineinschneidet, denen von einer andern Feile dann der feinste Schliff gegeben wird. Hier werden nur Ringe ausgeschnitten, dort nur Zeiger, hier Stifte, dort Pendel. Selbst das Blankputzen, die reibende Kraft dabei, übernimmt die Maschine.

Treten wir sonst in eine Uhrmacherwerkstätte, so ist das ein überaus stiller und friedlicher Winkel, und das etwaige leise Geräusch der feinen Arbeit wird bei Weitem übertönt durch das gleichförmige Ticken, durch die Pendelschwingungen der fertigen Uhren, welche an der Wand zu hängen pflegen. Hier aber, in den Fabrikräumen, könnte eine Domglocke dicht an unserem Ohre läuten, man würde nichts davon hören – solch ein unbeschreiblich toller Höllenlärm ist namentlich in einem dieser Räume, und will man einen Arbeiter oder den begleitenden Herrn nach etwas fragen, so muß man ihm in’s Ohr schreien. Mit Schwatzen wird hier sicher keine Zeit versäumt. So sind also die Arbeitern zum Fleiße gezwungen, und wie immer ein Rädchen von links nach rechts gelegt wird, so ist auch immer eine weitere Uhr gemacht, denn da jede Uhr doch nur einmal just dieses Rades bedarf, so gehört und entsteht auch zu diesem Rade jedesmal alles dazu Gehörende, eine complete Uhr. Wie viele das alltäglich sein mögen, wie viele im Jahre – ich weiß es nicht; jedenfalls aber ist die Zahl noch in steigendem Fortschritt begriffen.

Ein eigentlich geschickter Arbeiter ist bei diesem fabrikmäßigen Betriebe der Uhrmacherei nur dazu nöthig, um all die Einzelheiten zu einem Ganzen zu fügen; nur er muß das Getriebe der Räder, den Zweck der Schrauben und Federn und ihre Dienstleistungen kennen, während das bei den übrigen Handlangern durchaus nicht erforderlich sein kann. In dem Raume, wo Jener arbeitet, ist es auch still; da ist kein Tosen und Heulen und Brausen, und still arbeitet neben ihm auch der Schnitzer, welcher an den Reliefarbeiten bosselt und je nach der Feinheit seiner Arbeit sich zum Künstler erheben kann. Doch werden die Schnitzarbeiten meist in den Privatwohnungen verfertigt, denn sie bedürfen nicht jener Gemeinsamkeit, welche eine einzige gewaltige, bewegende Kraft sich dienstbar gemacht hat. Uebrigens ist die Schnitzerei keine Specialität des Schwarzwaldes, und die schönsten Uhrgehäuse werden aus der Schweiz bezogen. Alles aber, was zu einer regelrechten Schwarzwälder Uhr gehört, wird innerhalb des Etablissements gemacht, Alles, bis auf die Seele des Ganzen: die Uhrfeder. Die liefert Frankreich. Und ich glaube, auch Emailzifferblätter werden von auswärts bezogen, während die auf Holz gemalten der gangbarsten Sorten selbstverständlich in Neustadt gemacht werden.

Eigentliche Uhrmacher, was man früher so darunter verstand, giebt es in jenem Orte kaum noch. Der Handwerker kann nicht gegen die Concurrenz der Maschinen aufkommen; er hat sich auf Reparaturen, auf den Uhrenhandel zu beschränken; er wäre heute auch gar nicht mehr im Stande, dem Bedarfe zu entsprechen, der in demselben Maße gestiegen ist, wie die Production, obwohl man dennoch sich verwundert fragt: wo bleiben nur alle diese Uhren? da es zur Zeit doch nirgends Brauch ist wie im Schwarzwalde, daß man zwei oder drei Uhren in eine Stube hängt. Der billige Preis muß die Sache erklären.

„Schwarzwälder Uhr“ wird unbedingt immer die Bezeichnung für ein gewisses Genre von Uhren bleiben, wahrscheinlich werden sie vorzugsweise auch ferner daselbst gemacht werden, aber die Kunst, die in der einsamen Hütte des Häuslers erstand, die ist im Schwarzwalde untergegangen; das mächtig umrollende Rad der Industrie hat sie einfach bei Seite geschoben, und wenn die stille, sinnige Arbeit des Mechanikers oder des Holzschneiders in abgelegenen Gebirgsthälern fast einem nothwendig sich ergebenden Naturproducte gleich kommt, so hat er mit dem gigantischen Räderwerke der Maschinen von Haus aus nichts gemein. Ein fremdes Cyclopenvolk ist in die arkadische Heimath eingedrungen.

Und wenn man dem Lorenz Kreuz auf der Redeck auch kein Denkmal setzt, und wenn man nach Ablauf von drei Jahrhunderten auch nicht mehr daran denken sollte, dorthin zu wallfahrten, weil es keine Uhrmacher mehr giebt, so werden die Namen des Berges und des Erfinders doch unzertrennlich bleiben, und wessen Name besteht, so lange die Berge bestehen, der dürfte stolz sein auf seinen Antheil an Unsterblichkeit.

A. Volckhausen.




Die drei ersten Jahre des Kindes.[1]


Es ist eine alte Wahrheit, daß die größten Wunder täglich vor unseren Augen stehen und geschehen, ohne daß wir es gewahr werden, eben weil sie täglich sich wiederholen und erneuen. Von diesen Wundern ist das herrlichste das Kind und seine körperliche und geistige Entwickelung. Wird die Reihe von Erscheinungen, die das Kind uns zeigt von seinem ersten Schrei bis zu seinem ersten Schritte, wirklich so beobachtet, so gewürdigt und mit Geist und Herzen so genossen, wie sie es verdient? Sind nicht selbst der Eltern, welche dem erwachenden Leben des Kindes eine solche Aufmerksamkeit widmen, leider nur gar zu wenige? – und wie viele Tausende gehen kalt und theilnahmlos an der ganzen Kinderwelt vorüber! Das könnte in der That zu traurigen Betrachtungen führen über Wirklichkeit und Wirkung der sogenannten Bildung unseres Zeitalters, wenn wir es nicht vorziehen dürften, unsere Leser auf ein Werkchen hinzuweisen, welches Alle, denen die Fähigkeit nicht abgeht, sich des schönsten Wunders mitzufreuen, in die lauschigen Räume führt, wo sie das Kind vom ersten Athemzuge vor sich sehen, Tag um Tag das körperliche Gedeihen, das langsame Entfalten der Sinneskräfte, das allmähliche Erwachen des Geistes und seiner tastenden Regungen beobachten und an der Hand eines sinnigen Vaters Blicke werfen nach all den Strahlen des Geistes- und Herzenslebens hin, welche aus der Familienumgebung bei des Kindes Wiege zusammentreffen, denn das Kind bleibt vom ersten Hauche an der Mittelpunkt aller Freudenstrahlen und aller Sorgenschatten des Hauses, das mit ihm gesegnet ist.

Da wir aber den Inhalt dieses Werkchens gewissenhaftest beobachtender Vaterliebe nicht besser zusammenfassen können, als es dem Verfasser in dem Vorworte zu demselben gelungen ist, so wollen wir dieses unseren Lesern unverkürzt mittheilen:

„Es ist dem Verfasser dieses Tagebuches erst in späteren Jahren möglich geworden, eine Familie zu gründen. Schon von früh auf mit den großen Problemen des Daseins beschäftigt, war er in den letzten Jahren vor seiner Verheirathung durch das jüngste Auftreten des Materialismus auf’s Neue angeregt worden, dem Welträthsel nachzuforschen. Er leugnete die Realität des Stoffes nicht, aber er fragte sich: Ist der Geist, dessen Erscheinen und Wirken unverkennbar, nicht etwas ebenso Wirkliches wie der Stoff? Wenn der letztere auf zeitliche und räumliche Unendlichkeit Anspruch macht, er, der doch nur unbewußt natürlichen Gesetzen folgt, um wie vielmehr darf dies nicht der Geist, der mit Freiheit und Bewußtsein wirkt?

Als dem Verfasser nun ein Kind geboren wurde, kam ihm ganz natürlich der Gedanke, in dem jungen Wesen dem Erwachen des Geistes nachzugehen, in der Hoffnung, auf diesem Wege der Lösung des Räthsels auf die Spur zu kommen. Er schrieb daher, womöglich, Tag für Tag seine Beobachtungen nieder. Unwillkürlich aber gruppirten sich um dieselben andere Scenen, Bilder des Familienlebens, Erinnerungen vergangener Zeit, Schilderungen der Natur, gesellschaftliche und andere Eindrücke. So gestaltete sich das Tagebuch zu einem vollständigen Gemälde der ersten Kindheit von der frühesten Entwickelung an bis dahin, wo das Kind den ersten Schritt zur Trennung von den Eltern thut, den Gang in die Schule.

Der Verfasser hat geglaubt, daß die Mittheilung dieses Tagebuches auch auf Andere anregend einwirken könne, und übergiebt es daher mit einigen Kürzungen der Oeffentlichkeit. Er

  1. Das Kind. Tagebuch eines Vaters.“ Leipzig, H. Hartung u. Sohn. 1876.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 822. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_822.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)