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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


noch größeren Erfolg hatte „Ein Schritt vom Wege“, ein Lustspiel, welchem sich später „Die Realisten“, „Frau Luft“ und das Schauspiel „Die Frau für die Welt“ anschlossen.

Als Lustspieldichter ist Ernst Wichert der Nachfolger von Roderich Benedix, und zwar der einzige unter den Neueren, der sich innerhalb der von dem wackeren Lustspielveteranen gezogenen Grenzlinie hält. Schweitzer, Moser und andere beliebte Bühnenschriftsteller überspringen dieselben stets und bewegen sich mit einer oft sehr ergötzlichen Munterkeit auf dem Gebiete des Schwankes. Wichert, wenn er auch nicht eine so glückliche komische Ader hat, wie sie in diesen Stücken höchst ungenirter Erfindung und flotter Laune sich kundgiebt, besitzt dafür weit mehr künstlerisches Maß. Schweitzer besonders verzettelt seine Grundgedanken oft in leichtfertiger Weise. Moser schiebt wie in „Ultimo“ ein paar Schwänke durcheinander. Wichert hat wie Benedix den künstlerischen Sinn, den einheitlichen Rahmen für seine Lebensbilder durchaus festzustellen. Dies war schon in „Der Narr des Glücks“ der Fall, dessen Held immer kurz vor dem erreichten Hafen scheitert. Der eigentliche Lustspielgedanke ist hier konsequent durchgeführt, und man kann gegen das Stück kaum eine andere Einwendung machen, als daß das neu-französische Motiv, die Romantik der unsicheren Vaterschaft, nicht recht zum sonstigen kleinstädtischen und spießbürgerlichen Charakter der Handlung paßt. Man darf es den Wiener Preisrichtern nicht übel nehmen, daß sie in dem Stücke ein Lustspiel von Benedix sehen wollten und, um den wackeren Lustspieldichter zu belohnen, noch einen besonderen Preis den von Hause aus festgesetzten hinzufügten. Ein Lustspiel aber, welches Benedix in seiner besten Laune geschaffen haben könnte, ist „Ein Schritt vom Wege“, dasjenige Stück Wichert’s, das sich auf den deutschen Bühnen am erfolgreichsten behauptet. Es ist ein sehr glücklicher Gedanke, wie hier die Romantik einer jungen Ehefrau, der bei ihrer Hochzeitsreise zu wenig Ungewöhnliches und Abenteuerliches begegnet ist, durch „einen Schritt vom Wege“, den ihr Gatte unternimmt, auf die Probe gesetzt wird, wie derselbe sein Geld fortwirft und sich in die Wälder schlägt, an einem Badeorte durch Concertaufführungen mit der Frau sich einen Verdienst zu schaffen sucht, und wie nun die Letztere in eine Welt der unbehaglichsten Abenteuer hineingeräth. Das Lustspiel „Die Realisten“, welches vielleicht besser „die Egoisten“ getauft worden wäre, hat zum Helden einen aus Amerika heimkehrenden Goldonkel, der seine Familie und Alles, was dazu gehört, von einer nur auf engherzigen Vortheil bedachten Gesinnung curirt; in „Biegen oder Brechen“ empört sich ein junges Ehepaar gegen die Tyrannei der Schwiegereltern; die „Frau für die Welt“ ist gegen die Eitelkeit der Salons gerichtet und gegen Männer, welche in ihren Frauen Salondamen zu besitzen wünschen.

Es giebt ein bekanntes Lustspiel von Bauernfeld, „Bürgerlich und Romantisch“; es ist dieser Gegensatz, der sich durch die meisten Wichert’schen Lustspiele hindurchzieht, und der gediegene ostpreußische Verstand des Autors entscheidet sich überall zu Gunsten des Soliden und Bürgerlichen. „Ein Schritt vom Wege“ und „Die Frau für die Welt“ enthalten eine Verurtheilung des Romantischen und Glänzenden im Frauenleben. Es leuchtet ein, daß die Wichert’schen Stücke nicht an falscher Genialität kranken, sondern daß die Klippe für das Talent des Autors eher nach der entgegengesetzten Seite liegt. Der Aufbau dieser Lustspiele ist durchaus einfach und kunstgerecht; ihr Dialog, frei von Witzhascherei, entspricht ungefähr dem Dialoge in den Lustspielen von Benedix; es herrscht in ihm wie in den Situationen oft eine glückliche Laune, welche von der Bühne herab das Publicum in heitere Stimmung versetzt.

Einige politische Gelegenheitsstücke Wichert’s, wie „Das eiserne Kreuz“, zeichnen sich durch patriotische Wärme und eine Erfindung, welche das Familien- und Vaterlandsgefühl glücklich verschmilzt, vortheilhaft aus.

Der unermüdliche Autor ist nicht minder schöpferisch als Erzähler in größeren Romanen und kleinen Novellen. Die „Gartenlaube“ brachte einige der letzteren, von denen namentlich „Schuster Lange“ allgemeine Anerkennung gefunden hat. Diese treffliche Erzählung wurde auch in mehrere fremde Sprachen übersetzt. In seinen Romanen sucht Wichert einzelne wichtige Zeitfragen mit einer Gründlichkeit zu behandeln, die den Denker fast mehr als den Dichter verräth; ja es fehlt in diesen Romanen nicht an einzelnen Stellen, welche einen für ein Dichtwerk zu trockenen Ton anschlagen, so sehr man die Tüchtigkeit der Gesinnung, die verständnißvolle Erfassung der Lebensverhältnisse und die maßvolle Gediegenheit der Darstellung, welche sich in diesen Werken zeigt, auch schätzen muß. Der Roman „Die Arbeiter“ behandelt die sociale Frage, welche Wichert in einem volksmäßigen Tendenzstücke, „Die Fabrik zu Niederbronn“, auch auf die Bühne brachte. Die Lösung dieser Frage wird der Poesie nicht minder schwer fallen, als der Staatsgewalt und den gesellschaftlichen Verbindungen, die sich damit beschäftigen; eine Gefahr für die Poesie liegt in dem vielen Maschinengeklapper, welches für den Hintergrund der Handlung unerläßlich ist, und in den sehr prosaischen Fragen der Lohnerhöhung. Daß der Dichter die reine Gesinnung liebevollen Zusammenwirkens zu einer wichtigen Instanz für die Entscheidung dieser Frage macht, ist sein gutes Recht; im praktischen Leben wird gegenwärtig geringer Werth auf eine solche moralische Lösung gelegt; hier spricht nur das Interesse, und zwar eine sehr rauhe und kampflustige Sprache. In dem Romane „Hinter den Coulissen“ schildert Wichert die Bühnenwelt in allen ihren Verzweigungen von der Hofbühne bis hinab zur Singspielhalle, und zwar nicht blos in lebendiger Schilderung, sondern auch mit einer Fülle sinnvoller Betrachtungen und allerlei Reformvorschlägen. Die Verwickelung beruht hauptsächlich auf einer abenteuerlichen Vorgeschichte, die glücklich erfunden ist; doch in der Ausbeutung dieser glücklichen Erfindung für die Zwecke der Spannung besitzt Wichert so wenig wie die meisten deutschen Autoren jene Meisterschaft der Romantechnik, wie sie die neueren französischen und englischen Sensationsschriftsteller auszeichnet. An und für sich ist dies kein Mangel; nur wenn die Erfindung selbst auf solche Wirkungen angelegt ist, vermißt man ihre glänzende Ausbeutung.

Andere Romane von Wichert, wie „Ein häßlicher Mensch“, sind mehr persönliche Lebensgemälde.

Der neueste Roman Wichert’s, „Das grüne Thor“, und eine sechsbändige Sammlung von Erzählungen und Novellen, unter denen sich mancher glückliche Griff des Autors findet und welche alle die Eigenthümlichkeit seiner schlicht gediegenen, oft von munterer Laune angehauchten Darstellungsweise nicht verleugnen, sprechen für die Fruchtbarkeit dieses Schriftstellers. Vielleicht sind Sie geneigt; verehrte Freundin, dies für ein zweifelhaftes Lob zu halten und mehr den Löwen, der nur ein Junges zur Welt bringt, als die Blattlaus mit ihrer unzähligen Nachkommenschaft für das nachahmungswerthe Vorbild des Dichters zu halten. Doch in unserer Zeit, in der nur selten ein Meisterwerk vom Himmel fällt, ist immer mehr Aussicht, daß ein Autor unter zahlreichen Nummern einen Treffer zieht, als wenn er sein Alles auf eine einzige Nummer setzt. Auch hat es sehr fruchtbare Dichter von großem Genie gegeben; ich erinnere nur an die griechischen Tragiker, welche zum Theil über hundert Trauerspiele verfaßten, an Lope de Vega und Calderon. So erfreuen wir uns getrost an der Thätigkeit rastlos schaffender Geister, die doch nicht blos in’s Danaidenfaß schöpfen.

Und wenn Sie, verehrte Freundin, mit mir allerlei romantische Neigungen theilen und in Dichtung und Leben selbst für das kühnere Wagniß empfänglich sind, welches aus dem Kreis alltäglicher Erfahrungen und Meinungen heraustritt: so haben wir uns doch Beide die Unbefangenheit gewahrt, auch den Autoren von mehr bürgerlichem Gepräge und von schlichtem Lebenssinn, sobald sie Tüchtiges schaffen, warmen Antheil zu schenken. Für die Bühne sind Schriftsteller wie Benedix und Wichert unersetzlich. Die Bühne bedarf des bürgerlichen Lebensbildes, und beide Dichter haben demselben stets eine veredelnde Tendenz gegeben.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 819. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_819.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)