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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


dem hochaufwogenden Streite der religiösen Fragen gegenüber, ein tiefes Schweigen beobachtet hatte, trat er 1864 mit jener umfassenden Weiterführung, Berichtigung und Bearbeitung seines Hauptwerkes hervor, die unter dem Titel „Das Leben Jesu, für das deutsche Volk bearbeitet“, allen Gebildeten bekannt geworden und von welcher bereits in dem schon erwähnten früheren Artikel gesprochen ist. Mit dieser bedeutsamen Leistung und zwei 1865 erschienenen kleineren Schriften („Der Christus des Glaubens“ und „Die Halben und die Ganzen“) hat Strauß seine Thätigkeit für die religiöse Befreiung abgeschlossen, so weit dieselbe in den thatsächlich sich vollziehenden Fortschrittsbewegungen ihre Wurzeln hatte. Das Buch „Vom alten und neuen Glauben“ mit welchem er sechs Jahre später die Welt überraschte, steht auf einem ganz anderen, durchaus neuen Boden; es wirft Fragen der Zukunft in Betreff der höchsten Dinge und Menschheitsziele auf, welche die Welt an den Kritiker des Bestehenden und Ueberlieferten nicht gerichtet, deren Beantwortung sie zu seinen Aufgaben nicht gerechnet hatte; es wendet sich an eine kleine Gemeinde innerhalb der Geistesaristokratie und läßt das noch ungeklärte und unsicher tastende Vorwärtsringen des Volkslebens wie einen verlorenen Posten achtungslos zur Seite liegen. Wir gehören aus dem letzteren Grunde nicht zu den Freunden dieses Buches, aber mit Unzähligen, die sein Inhalt befremdet und theilweise abgestoßen hat, verkennen wir nicht, daß es durch tiefsittliche Beweggründe veranlaßt wurde, daß es große Fragen aufgeregt und in Wunden der Zeit greift, vor Allem aber nicht, daß es wissenschaftlich und schriftstellerisch ein Meisterwerk ist und erhabenes Zeugniß ablegt von der ungebrochenen Kraft und dem Werthe seines Meisters. Es war sein Schwanengesang. Mitten im Tosen des gewaltigen Sturmes, den das Buch nach allen Seiten hin geweckt, war er 1872 von Darmstadt in die idyllische Stille seiner Geburtsstadt Ludwigsburg übergesiedelt, der er immer eine treue Anhänglichkeit bewahrt hatte. Hier in der Nähe seines Sohnes, der als Militärarzt in Stuttgart weilte, wollte er, gepflegt von einer alten Dienerin und Freundin seines elterlichen Hauses, den erquickenden und sänftigenden Athem seiner Kindheits- und Jugenderinnerungen auf sich wirken lassen. Aber kaum hatte der bis dahin fast jugendlich rüstige Sechsziger in der Heimath seine bescheidene Junggesellenwohnung sich eingerichtet, so erfaßten ihn die Vorboten der furchtbaren Krankheit, die ihn bald niederwarf und den Kämpfer vorzeitig hinwegführte in das Reich des Friedens.

Vier Jahrzehnte hindurch hatte unter den hervorragenden Geistern, welche unserer Culturepoche ihren Stempel aufgeprägt, der eigenartige und machtvolle Glanz dieses Mannes, ein Stern erster Größe, über Deutschland gestrahlt. Nicht immer wohlthuend und erquicklich wie mildes Frühlingslicht, hier und da sogar in schrillem und schroffem Widerspruche mit einem unleugbar guten Wollen, einer zweifellos gerechten Forderung des Freiheits- und Humanitätsstrebens, immer aber von der Höhe in die Tiefe leuchtend, immer auf große Ziele weisend, immer fördernd, rufend, weithin und tief die Geister erregend, und dies Alles stets in einer so mächtigen Weise, daß Feind und Freund nicht gleichgültig darüber hinwegsehen konnten. Rufen wir uns sein Bild vor das Auge,wie es die unparteiische Zukunft erschauen wird, so fällt unser Blick nicht blos auf einen großen Denker und auf ein großes Talent, wir sehen noch etwas viel Erhebenderes, wir sehen den mannesstarken Ueberzeugungs- und Wahrheitsmuth eines großen Charakters, der niemals seine Erkenntniß verhehlte oder umhüllte, niemals danach fragte, ob Das, was er war und sagte, ihm Schaden oder Nutzen bringe, ob es auch Anderen gefalle oder nicht. Wie er in den Reihen der Theologen sich die Anhängerschaft Derer verscherzte, die bei einiger Rücksicht seinerseits ihn zum Haupte einer großen Partei gemacht hätten, wie er unter Umständen über Fürsten und Regierungen seine Geißel schwang, so hat er auch niemals die vertrauensvoll zu ihm aufschauende Massendemokratie darüber in Zweifel gelassen, daß er nicht ihr Mann, sondern in wesentlichen Hauptpunkten ihr eifriger Gegner und Bekämpfer sei. Aus der urwüchsigen Unbefangenheit dieses heroischen Wahrheitsmuthes, der alle unwahren Mischungen haßte, wie einst Lessing sie gehaßt, entsprang von seinem ersten Auftreten an das Zündende seiner Wirkungen, die Schlagkraft seiner öffentlichen Thaten. Gern hätten die Pfaffen und Pfäffischen unter seinen zahlreichen Widersachern, ihrer Art gemäß, da seiner wissenschaftlichen Erscheinung sich nichts anhaben ließ, seinen Privatcharakter verkleinert und in den Staub gezogen, aber auch hier mußten ihre Künste die Segel streichen vor der musterhaften Lauterkeit eines stillen und schlichten, ausschließlich auf hoher Bahn sich bewegenden Wandels, dem das Gemeine, das Kleine und Niedrige so fern lag wie alles excentrische Wesen, alles Spiel der Eitelkeit und des renommistischen Dünkels.

Von seinen Jugendgenossen ist der spätere „Erzketzer“ geschildert worden als ein „Johanneskopf“, als eine halb schüchterne, vornehme Gelehrtennatur, ein zart besaitetes, leicht erregbares, poetisches Gemüth, aber als ein ungezwungener und liebenswürdiger Camerad, ein durchaus heiterer und witziger Gesellschafter. So ist er, trotz aller verbitternden Erfahrungen, bis an sein Ende geblieben. Seine Erholung und Erfrischung nach strenger Arbeit suchte er immer nur im stillen Naturgenusse, in der Beschäftigung mit Kunst und Poesie, namentlich in der Musik, vor Allem aber in einer geistig belebten Gesellschaft, im Umgange mit gebildeten Männer- und Frauenkreisen, auf welche die Anmuth seines Wesens einen unwiderstehlichen Zauber übte. Strauß war notorisch ein liebevoller Sohn, ein anhänglicher Bruder, ein überaus zärtlicher und aufopfernd pflichtgetreuer Vater, ein treuer und warmer Freund seiner Freunde, und es ist ihm die Liebe, welche er reichlich ausgab, auch in reichem Maße erwidert worden.

Nur ein einziger Schatten, den der nie ermüdliche Klatsch denn auch weidlich ausgebeutet hat, scheint auf seinem Leben zu ruhen: die unglückliche und bald schon wieder aufgelöste Ehe mit einer vielbelobten Gattin. In Bezug auf diese so delicate und rein persönliche Angelegenheit forderte die scandalsüchtige Neugier eine Rechtfertigung von ihm, und weil er sie natürlich nicht gab, war des Gezischels der klugen Leute und bösen Zungen kein Ende. Aber auch dieses Dunkel fängt jetzt sich nachträglich zu lichten an.

In einem Anhange zu dem kürzlich erschienenen zweiten Bande seiner „Religiösen Reden“ theilt nämlich Heinrich Lang in Zürich einen vertraulichen Brief mit, den bereits 1846 eine württembergische Frau an eine Freundin geschrieben und dessen Original sich in Lang’s Händen befindet. Aus diesem Briefe geht zur Genüge hervor, daß Strauß in seiner fünfjährigen Ehe mit außerordentlicher Liebe, Geduld und Seelengüte ein Martyrium durchlitten hat, wie es viel geringere Männer als er vielleicht nicht ein paar Monate ertragen hätten. Erst als das Schlimmste hereindrohte, der Untergang seiner geistigen Persönlichkeit, löste er das Band mit der ihm ganz verständnißlos gegenüberstehenden Künstlerin. An ihm bleibt hier keine Schuld bestehen, als die Unbesonnenheit der Wahl, bei der er sein Wesen und namentlich die gewohnheitsmäßige Schlichtheit seiner Lebensführung nicht in Rechnung brachte. – Ein anderer Vorwurf, der ihm von der linken Seite des Liberalismus gemacht wird, bezieht sich auf seinen politischen Standpunkt, und in der That lag hier ein Widerspruch. Der Mann, welcher auf dem religiösen Gebiete mit so radicaler Entschiedenheit aufräumte, huldigte in der Politik conservativen Neigungen. Er, der die Geburt und das dunkle Werden einer Weltreligion im Volksgeiste einer fernen Vergangenheit mit feinem Ohre erlauscht hatte, zeigte kein Verständniß und keinen Blick der Liebe für die gährenden Wiedergeburtsbewegungen des ihn umgebenden Volkslebens.

Es war das ein Mangel in seiner Natur, aber nicht mit Unrecht wird derselbe auf jene besonderen Vorzüge zurückgeführt, welche seinen Werken die Kraft und den Reiz gegeben, auf die Gedankenschärfe, der alles Unklare, Phrasenhafte, Confuse und Unreife zuwider war, auf den feinfühligen und geschmackvollen Künstlersinn, der sich durch Ungeordnetes und Wildes, durch Lärmendes und Gewaltsames erschreckt, verletzt und abgestoßen fühlte. Immerhin jedoch war es ein Mangel, und es ist zu bedauern, daß Strauß der Sinn abging für die thatsächlichen Entwickelungsgesetze, wie sie leidenschaftlich und geräuschvoll in großen Volksstürmen sich vollziehen. Nur möge deshalb Niemand glauben, daß Strauß nicht ein Mann der modernen Freiheit gewesen sei, daß er, im Widerspruche mit seiner Aufgabe, Unrecht, Unterdrückung, Erhaltung veralteter Knechtungswirthschaft gewollt habe nach irgend einer Seite hin. Deutschlands Macht und Größe, so schrieb er 1872, habe er sich immer nur begründet gedacht auf

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 803. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_803.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)