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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

vor dem Schlafengehen meine Nerven noch ein wenig zu beruhigen.

Ich war gestern in der Assemblée, doch muß ich gleich anfangs bemerken, daß der ganze Tag vorher nicht angenehmer war als der Montag, und ohne ein wirklich zwingendes Motiv hätte mich wohl nicht leicht etwas zum Mitfahren zum Ball bewegen können. Je trüber ich jedoch in meinem Herzen mich gestimmt fühlte, desto ausgelassener schien Olga zu sein; sie gab hundert Drolligkeiten an, über welche Zenaïde Petrowna herablassend lächelte und unser Gebieter sich vor Heiterkeit ausschütten wollte, während sie auf mich den allerunangenehmsten Eindruck machten.

Der gestrige Ball, als derjenige, welcher in die Zeit der Wahlen fällt, war der vielen Fremden wegen einer von den glänzendsten und besuchtesten in der Saison. Hätte ich freien Gemüthes auf das bunte Gewühl hinabblicken können, es würde mir Vergnügen gemacht haben, diese schimmernde Menge geputzter, durcheinander wogender Menschen zu beobachten, deren Gesichter in anscheinend ungetrübter Heiterkeit strahlten. Um ihrer Aller Lippen schwebte ein Lächeln, als gäbe es in der weiten geschmückten Halle nur Menschen, die glückselig am Freudenkelche nippen, die nichts wissen von verborgenem Weh, von stiller, das Herz zusammenpressender Angst, als trieben nicht unsichtbar unter der glänzenden Außenseite Neid und Bosheit ihr ränkevolles Spiel, den kleinen schwarzen Schlangen gleich, die sich geräuschlos und ungesehen am liebsten unter einer Oberfläche von Blumen fortringeln.

So aber hatte ich weder Sinn noch Zeit, an etwas Anderes zu denken, als an den Zweck meines Kommens und war sehr befriedigt, als ich in der That bald genug Fräulein Adrianoff unter den Tanzenden entdeckte. Es gelang mir im Laufe des Abends, ihr einen Wink zu geben, den sie auch verstand. Sie eilte zu mir herauf. Erhitzt vom Tanze und vor Glück strahlend – sie hatte, wie ich später erfuhr, soeben im Vorübergehen Hirschfeldt gesprochen – stand sie vor mir, eine entzückende Erscheinung. Ein Kleid von klarer, feingewebter Gaze, überall mit Büscheln goldener Aehren reich verziert, umhüllte ihre prächtige Gestalt gleich einer duftigen weißen Wolke, und ein Kranz von blauen Cyanen, durch ihr wundervolles blondes Haar geschlungen, fiel, mit dem gleichen kostbaren Aehrenschmucke durchflochten, auf ihre perlmutterweißen Schultern herab.

„Endlich, meine theure Helene, endlich sehe ich Sie wieder,“ sagte sie und streckte mir ihre beiden Hände entgegen.

Es ging mir wie ein Stich durch’s Herz: ich sollte das liebliche Wesen, in dieser Minute noch strahlend in Jugendmuth und Festlust, vielleicht in der nächsten schon durch meine Worte grausam verwunden, und doch durfte ich nicht säumen, denn die Augenblicke konnten gezählt sein, in denen ich mit ihr reden durfte.

„Fräulein Wéra,“ begann ich in deutscher Sprache, nachdem ich mich möglichst mit ihr zurückgezogen und mich überzeugt hatte, daß Niemand in der Nähe uns verstand, „haben Sie in diesen Tagen, haben Sie Sonntag einen Brief an mich abgeschickt?“

Sie sah mich mit ihren großen Augen in starrer Verwunderung an, und dann, als ob sie meine Gedanken in meinen Mienen läse, zuckte es wie Schreck über ihr Antlitz. „Warum fragen Sie mich?“ stammelte sie.

„Weil ich Grund habe, zu vermuthen, daß ein Brief für mich in unserem Hause verloren gegangen ist, und weil ich wissen möchte, ob er von Ihnen war.“

„Sie haben ihn nicht bekommen?!“ rief sie, meinen Arm krampfhaft umklammernd, mit solcher Heftigkeit, daß ich mich erschrocken umsah und warnend den Finger auf die Lippen drückte.

„Ich habe ihn nicht bekommen,“ erwiderte ich, „bitte, sagen Sie mir, was er enthielt!“

Sie sah mich einige Secunden lang verwirrt an. „Ich schrieb Ihnen,“ begann sie alsdann und machte eine verzweifelte Anstrengung, sich zu fassen, „daß es mir am Sonntag unmöglich sein würde, in’s Concert zu kommen; ich bat Sie, dies Alexis mitzutheilen und ihm zu versichern, daß meine grenzenlose Liebe zu ihm immer dieselbe sei und daß ich um Aufklärung bäte, warum ich ihn bei dem bewußten Rendezvous neben der Kathedrale nicht getroffen habe. Und nun sagen Sie mir, Helene,“ fügte sie hinzu, „wie wissen Sie etwas von der Existenz des Briefes, da Sie ihn doch, wie Sie sagen, nicht empfangen haben?“

Was hätte ich nicht erdulden mögen, um die Aermste zu schonen! Aber ich durfte ihr unmöglich die Wahrheit verschweigen. Zudem hätte sie jeden Tag eine ähnliche Unvorsichtigkeit begehen können – sie mußte gewarnt werden. Ich bat sie, sich zusammen zu nehmen, damit nicht ihre Verstörung Aufsehen errege, und sagte ihr, das Billet sei Zenaïde Petrowna in die Hände gefallen und diese kenne den Inhalt desselben.

Kaum hatte ich das Wort gesprochen, als Wéra erbleichte. Sie schwankte. Ich suchte sie zu stützen und redete ihr leise zu, aber sie hörte nicht einmal darauf. Die schönen Augen matt und doch voll Angst zu mir aufschlagend, fragte sie nur mit bebender Stimme: „Wird Madame Branikow es Constantin, wird sie es meiner Mutter sagen?“

„Dann müßte sie die Unterschlagung des Briefes einräumen,“ erwiderte ich, „und dadurch wird sie sich nicht compromittiren wollen.“

„Schaffen Sie mir den Brief wieder!“ bat Wéra in flehendem Tone. „Ich bin verloren, wenn sie ihn meiner Mutter in die Hände spielt.“

Jedes weitere Zureden, ich mochte es versuchen wie ich wollte, war durchaus vergeblich. Plötzlich richtete sie sich empor, und es flog wie ein wilder Entschluß über das liebliche, erblaßte Antlitz. Sie ergriff meine Hand und drückte sie mit leidenschaftlicher Hast; bevor ich noch recht zur Besinnung gekommen, war sie fortgeeilt. Kurze Zeit darauf sah ich sie wieder unten im Saale, sah, wie sie tanzte, und wie sich in jeder ihrer Bewegungen die leidenschaftliche Aufregung widerspiegelte, von der sie ergriffen war.

Was sollte daraus werden? Lange hierüber meinen Betrachtungen nachzuhängen, sollte mir nicht vergönnt sein; denn neben mir ertönte plötzlich Hirschfeldt’s unruhig bewegte Stimme: „Was ist nur geschehen, Fräulein Helene? Wéra, die ich auf dem Corridore erwartete, um endlich einmal genaue Auskunft über den Zustand in ihrem Hause und über die Wahrheit aller umlaufenden Gerüchte zu erhalten, war wie außer sich. Sie stand mir nicht Rede, verwies mich nur an Sie und schien kaum zu wissen, was sie sagte.“

„Nehmen Sie einen Augenblick Platz!“ antwortete ich ihm. „Sie sollen Alles erfahren, aber vor allen Dingen machen Sie nicht ein so erschrockenes Gesicht, wie kein Mensch es an Ihnen gewohnt ist, wenn Sie nicht wollen, daß alle geschäftigen Zungen von Woronesch morgen die Ursachen Ihrer Bestürzung erörtern!“

Er setzte sich. Es wurde ihm ersichtlich schwer, seine sonstige Sicherheit auch nur oberflächlich wieder zu gewinnen. Ich theilte ihm mit, was sich zugetragen hatte.

„Wie oft habe ich Wéra gebeten, mit diesen unglücklichen Briefen vorsichtig zu sein!“ sagte er nachdenklich. „Im Grunde aber ist alles einerlei, denn zur Katastrophe mußte es früher oder später doch kommen, und dieser Zustand der Ungewißheit beginnt allgemach unerträglich zu werden.“

„Ich werde keinenfalls länger Madame Branikow’s versteckte Anspielungen dulden,“ nahm ich das Wort, „sondern, wenn sie in denselben beharrt, eine offene Erklärung herbeiführen.“

Und das war auch heute während des ganzen Tages meine Absicht, aber die Gebieterin des Hauses hat mir hartnäckig das Glück ihrer Gegenwart entzogen. Es heißt, sie leidet an ihrer Migräne und will deshalb Niemanden sehen, und doch weiß ich durch Masche, daß Olga bei ihr gewesen ist.

Wie schon so oft in meinem Leben, will ich mich bemühen, auch diesmal den Ereignissen kaltblütig die Stirn zu bieten. Was meine Thatkraft zu lähmen droht, das ist nicht mein eigenes Ergehen; es ist die tödtliche, still nagende Angst um – ihn, dessen Schicksal in der Hand eines so unvorsichtigen Mädchens ruht, wie Wéra ist.


Den 25. Januar.

Die schwarze Wolke, lange gefürchtet, wenn sie heraufzieht, birgt in ihrem Schooße oft ein ganz anderes Unheil, als wir bisher in dem fern grollenden Ungewitter fürchteten – das ist der Gedanke, der sich immer wieder in mir regt, während ich mich anschicke, mit bebender Hand die Erlebnisse des heutigen Tages niederzuschreiben, und während ich voll Schrecken die langen Stunden der Nacht vor mir sehe, in der mich vermuthlich die Unruhe meiner Seele nicht wird schlafen lassen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 714. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_714.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)