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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


oder putzt mit einem großen Waschschwamme die Auslagescheiben. Dabei ist sie aufgeräumt, gesprächig, liebenswürdig und verliert selbst den unangenehmsten Kunden gegenüber niemals die Geduld. Sie hängt ebenso treu an ihrem Gatten wie irgend eine Deutsche oder Engländerin, und man irrt sehr, wenn man glaubt, daß in Frankreich das Familienleben so sehr zerrüttet sei. Freilich in Paris ist dasselbe in gewissen Classen locker genug; allein nach diesen Pariser Classen darf man das französische Familienleben im Allgemeinen durchaus nicht beurtheilen.

Wie sich die Franzosen von den Deutschen und Engländern unterscheiden, so unterscheidet sich natürlich die französische Familie von der englischen und deutschen, ohne deshalb weniger achtungswürdig als diese zu sein. Ich habe während meines mehrjährigen Aufenthaltes in England viel, ich kann sogar sagen fast ausschließlich mit englischen Familien verkehrt. Ich habe in englischen Häusern die zuvorkommendste Gastfreundschaft gefunden und werde die Erinnerung an dieselbe auf’s Dankbarste bewahren. Gewiß, das englische Familienleben hat sehr viel Vorzüge, allein es ist kalt und monoton. In einer englischen Familie wird ebenso viel gegähnt wie gesprochen und sehr oft weniger gesprochen als gegähnt. Schweigsam von Natur, verbannt der Engländer die ergiebigsten Stoffe aus der Unterhaltung. Ein Ausländer, der in einer englischen Familie über Religion oder über Eheverhältnisse spricht, begeht schon ein großes Wagstück, und spricht er darüber nicht mit der äußersten Vorsicht und mit der allerrücksichtsvollsten Schonung englischer Zustände, so wird man ihm nicht lange die Gastfreundschaft angedeihen lassen. Der Franzose ist eitel und hört sich gern loben; der Engländer ist stolz und hört sich nicht gern tadeln. Es ist aber unangenehmer, einen gerechten Tadel unterdrücken zu müssen, als etwas Weihrauch zu spenden. Die Eitelkeit, die einen Werth auf unsere Anerkennung legt, behagt uns mehr als der Stolz, der unser Urtheil kalt abweist.

Die englische Prüderie, eine häßliche Stiefschwester der Schamhaftigkeit, zwingt die gesellige Unterhaltung in einen sehr eng umschriebenen Kreis und giebt derselben etwas Steifes, Gezwungenes, an welches der Engländer gewöhnt ist, der Ausländer sich aber nur schwer gewöhnt. Mit einem Worte: dem englischen Familienleben fehlt die Anmuth; in der französischen Familie fehlt sie selten.

Es war mir einst vergönnt, einige Zeit auf dem Lande im Hause einer legitimistischen Familie zuzubringen. Drei Generationen waren in dieser Familie vertreten. Die Großmutter, die Herrin des Hauses, theilte dasselbe mit ihrer Tochter und deren Gatten und mit den bereits herangewachsenen Enkelkindern, unter welchen sich ein sehr hübsches Mädchen befand. Ich brauche nicht erst zu sagen, daß die Familie sehr fromm war. Die Matrone ging jeden Morgen zur Kirche, und an der Tafel saß fast täglich ein Geistlicher; sehr häufig wurden deren zwei eingeladen. Dessen ungeachtet war das Gespräch heiter; die Geistlichen trugen sogar nicht wenig zur Belebung desselben bei. Der katholische Geistliche ist auch in Deutschland in vielen Gegenden ein viel angenehmerer Gesellschafter als der protestantische, und in Frankreich ist er es noch mehr als in Deutschland. Er ist kein Griesgram und nimmt, soweit es seine Stellung nur immer zuläßt, an den geselligen Zerstreuungen den lebhaftesten Antheil. Statt die Augen zu verdrehen, drückt er sie oft zu, und verlangt er, daß man seinen Stand schone, so fühlt er sich auch verpflichtet, durch keinen Mißton die Geselligkeit zu stören. Die Unterhaltung stockte auch niemals. Während Abends die Damen sich mit Stickerei beschäftigen, in der, beiläufig gesagt, die Lilien vorherrschten, trug Jeder seinen Theil zum Gespräche bei, welches, ob ernst, ob scherzhaft, stets natürlich und ungezwungen war. Die Tafel war vortrefflich, wenn auch just von keinem besondern Luxus. Sie brachte mich indessen einige Male in Verlegenheit. Freitags nämlich enthielt sich die Familie der Fleischspeise, während für mich allein eine solche aufgetragen ward. Ich wagte keine Bemerkung. Als ich jedoch, im Hause vertrauter geworden, mich einst mit der ehrwürdigen Matrone allein befand und mir eine Anspielung auf die Ausnahmsschüssel erlaubte, sagte die Dame:

„Mein Herr, Sie waren so freundlich, unsere Gastfreundschaft anzunehmen, und ich bin überzeugt, daß Sie bei uns gar manche Bequemlichkeit entbehren, an die Sie in Ihrer Behausung gewöhnt sind. Das läßt sich nun nicht ändern. Wir wollen aber durchaus nicht Ihre Lebensweise stören, wo wir im Stande sind, dieselbe unverändert zu erhalten. Wir wissen, daß Sie weder unsere religiöse noch politische Ueberzeugung theilen, daß Sie aber diese Ueberzeugungen achten, und so gering auch unsere Gastfreundschaft sein mag, lassen Sie sich dieselbe gefallen, wie wir sie Ihnen bieten!“

Besagte Schüssel wurde nach wie vor servirt und genoß nicht mehr die Ehre, irgend eine Bemerkung zu veranlassen.

Fühlte ich mich nun in diesem Hause von der liebevollen Hochachtung der Kinder gegen die Eltern, von der Liebenswürdigkeit der Eltern gegen die Kinder sehr angemuthet, so gewährte mir die Beziehung zwischen Herrschaft und Dienerschaft die lebhafteste Befriedigung. Hier war einerseits nichts von mürrischem, hochmüthigem Gebieten und andererseits nichts von kriechendem Gehorsame wahrzunehmen. Die Herrschaft behandelte das Hausgesinde mit freundlichem Wohlwollen, ohne sich dabei den Schein besonderer Herablassung zu geben, und das Gesinde hing mit Liebe und Verehrung an der Herrschaft, um so mehr, als diese auf die Zukunft jedes Einzelnen im Dienstpersonale fortwährend bedacht war. Sobald ein Mitglied desselben eine kleine Summe erspart hatte, wurde sie von der Herrschaft in sicheren Werthpapieren angelegt. Einer der Kammerfrauen wurde sogar von ihren Ersparnissen ein Häuschen angekauft, das ihr eine kleine Jahresrente abwarf und in welchem sie in späteren Jahren unabhängig leben konnte. Unter den weiblichen Dienstpersonen befanden sich mehrere Schwestern, und die Frau des Kutschers gehörte ebenfalls zum Hausgesinde, das auf diese Weise sein eigenes Familienleben zu führen und in gemeinsamer Arbeit etwas Erkleckliches für das Alter zurückzulegen vermochte. Wie nun die Herrschaft einfach, schlicht, freundlich und zuvorkommend gegen Jedermannn war, so zeigte sich die Dienerschaft gleich freundlich und zuvorkommend gegen Hoch und Niedrig, gegen Arm und Reich und stach gar sehr vortheilhaft ab von dem hochnasigen Bedientenvolk in den Häusern der vom blinden Glücke improvisirten Millionäre, in jenen Häusern, wo der Herr oft nicht mehr Bildung besitzt als seine Bedienten und sogar noch weniger als diese.

In den reichen Bourgeoishäusern herrscht ein anderer Ton. Man lebt hier nicht in der Vergangenheit, in romantischen Traditionen. In diesen Häusern ist der Voltairianismus vorherrschend. Man hält zwar an seinem Glauben; allein man glaubt nicht mehr, als man schicklicher Weise glauben muß, oder, wenn ich mich so ausdrücken darf, als in der Haushaltung nöthig ist. Der Gatte, der Familienvater begleitet seine Frau, seine Tochter gewöhnlich bis an die Kirche und kehrt an der Schwelle derselben wieder um. Er besucht das Innerste der Kirche nur bei Geburts-, Hochzeits- und Todesfällen unter Verwandten und Freunden, oder wenn er in der Municipalität eine Würde bekleidet und den unteren Volksclassen mit gutem Beispiele vorangehen will. Indessen ist das Familienleben in dieser Bürgerclasse sehr achtbar. Der freie Ton zwischen Eltern und Kindern beeinträchtigt die Hochachtung dieser vor jenen nicht im allergeringsten. Für die heranwachsenden Söhne wird gewöhnlich durch Anstellungen gesorgt, wenn der Vater sich bereits von den Geschäften zurückgezogen oder als geborener Rentier niemals eine andere Beschäftigung gekannt, als die Coupons von den Staatspapieren abzuschneiden. Was die Töchter betrifft, so sucht man für sie ebenbürtige Partien, wenn keine Aussicht vorhanden, mit einem höheren Stande in Familienverbindung zu treten. Bevor aber die Töchter unter die Haube kommen, sind sie nur an der Seite ihrer Eltern, besonders an derjenigen ihrer Mütter sichtbar. Ein französisches Mädchen läßt sich niemals ohne Begleitung der Eltern, Brüder oder sonstigen Verwandten auf der Straße sehen. Nur die Ouvrières oder die Ladenmädchen zeigen sich ohne Begleitung auf der Straße und durchmessen diese mit hastigen Schritten, um anzudeuten, daß sie keine Begleitung wünschen.

Sehr achtbar, wenn auch sehr prosaisch, ist das Familienleben des französischen Kleinbürgers, des Krämers, des Boutikers. Hier wird unablässig gearbeitet und fortwährend gespart. Wenn aber auch alle Mitglieder der Familie an der Arbeit theilnehmen und die Ersparnisse vermehren helfen, so ist es doch besonders die Hausfrau, die an Thätigkeit und kluger Verwaltung es allen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 705. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_705.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)