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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

war gerade damit beschäftigt, einen verwickelten Bindfadenknoten aufzuknüpfen, als Schlag 11½ Uhr die Maschine zu klappern begann. Mehlmann drehte zuerst seinen Kopf nach dem Apparate hin; dann machte er einen Schritt nach dem Apparate hin und legte horchend die rechte Hand hinter das Ohr. Nach einer Secunde durchzuckte es ihn wie ein Blitzstrahl, er wurde feuerroth und richtete sich gerade auf. Der Apparat klapperte tonlos weiter. Mehlmann’s Röthe wich schnell einer erdfahlen Blässe, von der nur seine spitze Nase ausgeschlossen war. Seine Lippen kniffen sich fest zusammen, sein Gesicht nahm einen drohenden Ausdruck an und seine Augen leuchteten wie die einer aufgejagten Katze im Dunkeln. Als der Apparat schwieg, schien er sich zu fassen und seine Züge legten sich bald wieder in die ehrlichen Falten von vorher.

Dann ging er mit raschen Schritten auf den Tisch zu, von dem aus ihm ein solcher Schrecken eingejagt war, und während er bald nach den Fenstern, die auf die Straße gingen, bald nach der Thür, die auf den Flur führte, sah, schlug er in gemessenen Zwischenräumen wie ein Virtuose auf den weißen Knopf. Als er fertig war, wandte er sich zur Thür, rief mit heiserem Lachen: „Adieu, Reichstelegraphie!“ und stieß in demselben Augenblick auf mich, der ich die Thür von außen öffnete und ihm den Weg versperrte. Jetzt kam der Commissar durch die Thür des Nebenzimmers gesprungen und faßte ihn von hinten am Kragen. Mit einem gewandten Ruck jedoch machte er sich von diesem los und versuchte mich umzurennen. Das gelang ihm aber nicht, und nun folgte eine Balgerei, bei der er mich fortwährend anschrie: „Lassen Sie mich los. Sie dummer Teufel!“ Endlich glückte es uns, den Keuchenden auf einen Stuhl niederzudrücken. Er gab sich gefangen.

„Ihr Bureaudiener,“ sagte der Commissar athemholend, „kann nicht allein Depeschen hören, er depeschirt auch selbst vorzüglich. Wollen Sie die Güte haben, Herr Assistent, zu fragen, was er gesagt hat?“

Die durchgehende Depesche, die von der Nachbarstation L. nach R. gerichtet gewesen war und die ich mir in Mehlmann’s Abwesenheit bestellt hatte, welche er hören sollte und auch in der That gehört hatte, lautete:

„Staatsdepesche. An Polizeiverwaltung R. Berüchtigte Brachmeier hält sich dort oder Umgegend auf. Näheres über Anwesenheit bekannt?

B., Staatsanwalt.“

Auf meinte Anfrage in L., was soeben von uns aus dorthin telegraphirt sei, kam binnen einer Minute die Antwort:

„Staatsdepesche. An Staatsanwalt in L. Vernehmen nach wird dort Brachmeier gesucht. Hat sich hier vor vierzehn Tagen nach Z. abgemeldet, wo zu finden.

S. Polizeiverwaltung.“

„So,“ sagte ich, „Sie sind also die Polizeiverwaltung von S.? Nun, Sie werden bald genug mit derselben zu schaffen haben!“

Brachmeier, alias Mehlmann, schwieg achselzuckend. Wir brachten ihn darauf in sichern Gewahrsam, und demnächst begann die Untersuchung.

Dieselbe ergab, daß er mit mehreren Geldmännern des Ortes, namentlich Salomon Löwenherz, in Verbindung gestanden und diesen wichtige Börsendepeschen, die durch das Gehör ihm zur Kenntniß gekommen waren, verrathen hatte. Letztere hatten das, was sie vernommen, sofort telegraphisch in Chiffreschrift ihren Genossen, den Jobbern, mitgetheilt, die sofort davon Gebrauch machten. Es war dies die ungefährlichste Art des Verraths; denn hätte Brachmeier sich am Orte der Auf- oder Ausgabe der Depeschen aufgehalten, so wäre die Sache zu bald entdeckt worden. Hier war so leicht nichts zu befürchten. Zudem hatte er die Vorsicht gebraucht, selten mit seinen Genossen am Orte zu verkehren, und ihnen meist dadurch, gemäß vorheriger Abmachung, Mittheilung gemacht, daß er ihnen Formulare brachte oder schickte, deren Zahl irgend eine verabredete Bedeutung besaß. In der Regel war für ihn nur die Mittagsstunde von Drei bis Vier wichtig, weil zu dieser Zeit die Börsendepeschen durch den Apparat kamen, und deshalb hatte er Nachmittags das Bureau so ungern verlassen. In seiner Wohnung fand sich noch sein Beuteantheil, elfhundert Thaler. Seine Papiere waren natürlich alle gefälscht oder ihm von Anderen gegeben. – Das Ende vom Liede war wieder einsame Beschaulichkeit, welcher er noch heute obliegt.

L. Sch



Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin.
Von Otto Glagau.
10. Die Culturkämpfer.

Wir haben Alle gehört von den Helden der sagenhaften Vorzeit und von ihren Großthaten im Dienste der Menschheit. Sie verjagten die Räuber, erlegten wilde Thiere und schreckliche Ungeheuer, rotteten Sümpfe und Wälder aus und machten sie urbar, gründeten Städte, Staaten und Colonien, errichteten Tempel und vereinigten die Stämme und Völker durch Einsetzung von gemeinsamen Festspielen. Sie rangen und kämpften für die Cultur, für die Civilisation, und so wurden sie die Lieblinge der Menschen und der Götter; die Menschen erwiesen ihnen göttliche Verehrung, und die Götter machten sie zu ihres Gleichen, verliehen ihnen Unsterblichkeit und ewige Jugend. – Wir kennen auch aus der griechischen und römischen Geschichte die Männer, die sich bei Mit- und Nachwelt große Ehre, hohen Ruhm erwarben, indem sie Theater, Gymnasien und öffentliche Bäder anlegten, Straßen und Häfen, Canäle und Brücken, Wasserleitungen und Cloaken erbauten, indem sie Werke schufen, deren Ueberreste noch heute, nach Verlauf von Jahrtausenden, Bewunderung und Staunen erregen. – Solche Culturkämpfer und Helden der Civilisation traten auch neuerdings in Deutschland auf, und unter mächtigen Trompeten- und erderschütternden Posaunenstößen verkündigten sie ihre Pläne und Absichten. Sie wollten die Städte ausbauen und verschönern, die Bedürfnisse und Ansprüche ihrer Mitbürger in jeder Hinsicht befriedigen; sie versprachen gute und billige Wohnungen, allerhand verbesserte Einrichtungen, neue Eisenbahnen, Häfen etc.; sie verhießen eine reiche Blüthe von Handel und Wandel, einen mächtigen Aufschwung der gesammten Cultur und der allgemeinen Wohlfahrt.

So wiederholt sich Alles in der Weltgeschichte, und jede Zeit hat ihre großen Söhne. Nun besteht aber doch zwischen den antiken und den modernen Culturkämpfern ein kleiner Unterschied. Jene erhielten Lohn und Ehre hinterher, erst nach vollbrachter Arbeit; diese waren so vorsichtig, beides gleich vorweg zu nehmen. Jene schufen aus eigenen Mitteln auf eigene Kosten; diese hatten ihre Hände sofort in den Taschen des Publicums und beutelten dasselbe gründlich aus. Jene verrichteten wirkliche Thaten; diese beließen es meist bei Versprechungen. Jene schufen Werke, die sie noch Jahrhunderte überlebten; diese brachten es in der Regel nur zu Anfängen und Ansätzen, ihre Schöpfungen wurden gar nicht fertig, oder sie liegen schon wieder in Ruinen, in Trümmern und Schutt.

Die Culturkämpfer von heute sind die Gründer; und in diese Kategorie gehören vorzugsweise die Verfasser folgender Gesellschaften, die sich mit einem ebenso großartigen wie allgemein und unbestimmt gehaltenen Programm einführten, colossale Summen beanspruchten und zum Theil auch erhielten, aber von den überschwenglichen Verheißungen so gut wie nichts erfüllten, entweder völlig scheiterten und zerschellten, oder doch gegenwärtig gar kläglich auf dem Trocknen sitzen:

Deutsche Baugesellschaft. Gründer, respective Aufsichtsräthe: Commerzienrath Ad. Delbrück, Berthold Bensemann und Ad. Levin (Berliner Bankverein), J. H. Halske, Baron Ed. von der Heydt, Benoit Oppenheim (R. Oppenheim und Sohn), Fr. Meyer (E. J. Meyer), Dr. Mitscha und Ad. Schenk (Wiener Bankverein), Graf Othenio Lichnowsky in Wien. Directoren: Oberbürgermeister a. D. Kieschke und Stadtrath a. D. Risch. Actiencapital 6 Millionen Thaler, mit 70 Procent Einzahlung. März 1872 wurde der 40-procentige Interimsschein durch Delbrück, Leo u. Comp. an die Börse gebracht und mit 48 Thalern bezahlt; heute gilt der 70-procentige Interimsschein circa 18 Thaler.

Deutsche Eisenbahn-Baugesellschaft. Gründer, respective Aufsichtsräthe: Reichstagsmitglied Dr. juris Fr. Hammacher in Essen,


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 671. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_671.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)