Seite:Die Gartenlaube (1875) 651.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

zu den Höhen des Hegaus oder sei es hinein in die majestätische Alpenwelt, auf deren schimmernden Firnen der goldene Strahl des sinkenden Tagesgestirns liegt. Freundliche Spaziergänge führen uns vom Hôtel aus auf alle Seiten der Berggruppe, hinunter in ein Stück heerdenglockenbelebter Alpenwelt, hinan zu dem romantischen Wildparke und noch weiter auf grüne Matte, wo eben eine Anzahl Sennhütten als Privatwohnsitze entstehen. Oder man setzt sich in den unheimlichen Schatten des Kindlisteins oder in der lauschigen „Stille“ auf das angebrachte Bänklein, wenn es uns nicht behagt, in den splendiden Sälen des Hôtels der Unterhaltung zu pflegen, oder eine Kegelpartie zu machen. Was immer der Curgast sucht, das findet er hier; und treibt es das Wetter schlimm mit ihm, dann nimmt ihn die Bahn auf und führt ihn hinunter in die nahe Stadt, wo er findet, was das Herz begehrt. Morgen und Abend sind die Tageszeiten für die Berggäste, und in der Zwischenzeit wandert der Fuß ruhelos umher von einem Punkte zum anderen. Da die Bahn auch den Winter über ihre regelmäßigen Fahrten ausführt, so wird der Uetliberg eine das ganze Jahr dauernde Saison haben; denn wie schön der Sommer, so schön ist auch der Winter; ein Blick hinunter auf das Nebelmeer, aus dem nur die Berge hervorragen, oder ein Blick in die glitzernde, schimmernde Schneelandschaft, beide stellen sich keck dem Sommer an die Seite. Und wenn die Sonne hinuntersinkt in die Flammenröthe des Abends, wenn allmählich die Nacht hereinbricht mit ihrer wunderbaren Stille und dann die Mondscheibe majestätisch hineintritt in die Sternenwelt und ihr Licht ausgießt über die schweigende Erde – dieses Bild ist so erhebend schön im Winter wie im Sommer.

Und da steht man oben auf der höchsten Höhe des Berges, und der Blick schweift von dem malerischen Vordergrunde hinaus zur Säntiskette, zu den Schwyzer- und Glarneralpen, zu dem Bergfürstenpaare Rigi und Pilatus, hinein in die Berneroberalpen, die den gewaltigen Stock des Finsteraarhorns, die Schreck- und Wetterhörner, den Mönch, den Eiger und die Jungfrau leuchtend an die Wolken schieben, hinaus zu den langgedehnten Zügen des Jura bis hinein in den Schwarzwald und die Höhen des Hegaus. Und darüber weg zieht die Sonne in strahlender Schönheit und das Herz weitet sich auf dieser lichten Höhe, und noch einmal tritt das Wort auf die Lippe:

Also auch schau’ ich dich
In deiner Zukunft Rosenschein!





Ein Besuch in Drake’s Atelier.

Im Berliner Thiergarten, rechts von der breiten Allee, die nach Schloß Bellevue führt, liegt unter schattigen Bäumen das Atelier des berühmten Bildhauers Friedrich Drake. Wer hat nicht gehobenen Herzens vor seinen vielen öffentlichen Werken gestanden, namentlich seinen Portraitbüsten und ganz besonders vor seiner Kolossalstatue Friedrich Wilhelm’s des Dritten mit dem Reliefschmucke des Fußgestells von bezaubernder Composition? Die Berliner Bildhauerschule ist stolz auf diesen Meister. Ein großer, roher Marmorblock neben der Thür weist uns den Eingang zu seinem vielbesuchten Atelier. Es war im Frühlinge 1872, als wir den Künstler dort besuchten. Der Faulbaum blühte; goldene Sonnenlichter spielten im jungen Grüne, Alles war in Duft und Glanz getaucht, frisch und kühl, Vogelsang und Finkenschlag rings umher – die stimmungsvollste Umgebung, die man einer Künstlerwerkstatt wünschen kann.

Drake trat uns in bequemer, rother Flanelljacke, ein faltiges Barett aus braunem Sammet auf silbernem Lockenhaare, entgegen und führte uns zuerst zur Büste unseres großen Physiologen Helmholtz, die die Universität Leyden seinem ebenbürtigen holländischen Collegen, dem berühmten Professor Donders in Utrecht, als Festgabe zu dessen Jubiläum bestimmt hatte. Die Arbeit – wohl eine der vorzüglichsten, die Drake im Portraitfache geleistet hat – war eben im Thonmodell vollendet und gab, bei frappanter Aehnlichkeit und meisterhafter Ausführung, die ganze geistige Größe und Bedeutung des Helmholtz’schen Kopfes wieder, der allerdings selbst ein Muster von Plastik ist. Ich äußerte Drake meine Freude an seiner Arbeit.

„Ja,“ meinte er, „sie ist mir auch schwer genug geworden! Tüchtig habe ich mich dabei plagen müssen und hätte wohl manches Mal zu meinem Doctor Helmholtz sagen können, wie Mephisto zum Faust: ‚Ihr habt mich weidlich schwitzen machen.‘“

Drake macht überhaupt kein Geheimniß daraus, daß er oft mit Anstrengung arbeitet. Seine Frau versicherte mich sogar: einmal zum Mindesten pflege er an jeder seiner Schöpfungen zu verzweifeln; doch wären es unter diesen nicht die schlechtsten, bei denen jene Krisis sich am heftigsten einstelle. Auch sprach er es an jenem Morgen selber aus, wie unverständlich ihm die Sicherheit sei, mit der er viele Künstler ihre Aufgabe ergreifen und ausführen sehe. Zaghaftigkeit der Natur und den Anforderungen gegenüber, die der Gewissenhafte an ihre künstlerische Wiedergabe mache müsse, habe ihn bei seinen Arbeiten noch nie verlassen. Das hindere ihn freilich nicht, unvernünftigen Wünschen, wie Unkenntniß und Unverstand sie oft an die Plastik stellten, entschieden abweisend zu begegnen. „Und da kommt man denn in den Ruf der Anmaßung und Unbeugsamkeit, wo man doch demüthig und bescheiden, eben nur der Kunst selber wegen, nicht anders entscheiden kann,“ fügte er launig klagend hinzu.

Wir standen noch vor dem Helmholtz’schen Modell. „Meine nächste Arbeit,“ sagte Drake, „wird sich in weniger großen Formen bewegen. Eben war Graf Moltke bei mir, mich die Maße zu seiner Büste nehmen zu lassen. Das sind lauter kleine, feine, kniffliche Züge, bis auf die Ohren – die haben mich überrascht! Es ist beinahe unglaublich, ich habe solches Ohrenmaß wirklich noch nie verzeichnet.“ Und dabei durchblätterte er ein großes Buch, das die Maße seiner Portraitköpfe enthielt.

„Es erschien mir beim Niederschreiben so unmöglich,“ fuhr er fort, „daß ich glaubte, mich geirrt zu haben. Aber der Graf, der mein Zögern bemerkte, sagte gleich: ‚nein, es ist richtig so, ich habe merkwürdig große Ohren.‘ Darauf erzählte er mir, wie vor Jahren bei militärischen Uebungen in der Provinz, als er noch eine weniger hervorragende Stellung eingenommen, Jemand dringend gewünscht habe, ihn vor der Front herauszufinden, um ihm eine wichtige Meldung zu machen. Der Suchende sei deshalb vorher zu seiner damals noch lebenden Gemahlin gekommen und habe rathlos gefragt. ‚Aber woran erkenne ich denn Herrn von Moltke?‘

‚Er reitet einen Schimmel,‘ habe die Dame erwidert, ‚und hat die größten Ohren, die Sie sich denken können. Sehen Sie nur nach den Ohren, dann ist kein Irrthum möglich.‘ Und wirklich, das Zeichen trügte nicht. Der Schimmel gab es mehrere im Regimente, aber die Ohren waren einzig. Die Meldung kam an den Rechten.“

Drake erfreute die kleine Geschichte, besonders weil sie unmittelbar an der Quelle geschöpft war. – Er zeigte uns ein Gypsrelief in Medaillonform mit dem Profil des Architekten Klenze. Ein ungewöhnlich häßlicher Kopf. Kleine, nur halb geöffnete blinzelnde Augen, ein faltenumlagerter Mund, wirr aufsteigende Haare. Am Rande war neben dem Datum „sechsundfünfzig Minuten“ verzeichnet.

„Ich habe diese Skizze noch in Rauch’s Atelier gearbeitet,“ erzählte Drake. „Klenze kam zum Besuche, hastig, ruhelos wie immer.

‚Ich möchte Ihren Kopf skizzirt haben,‘ sagte Rauch.

‚Ich habe keine Zeit,‘ versicherte der Eilende, der nur zu einer bestimmten Besprechung gekommen war.

‚Nun, so lange wir eben sprechen,‘ erwiderte Rauch. – Darauf nahm ich, ohne mich zu besinnen, Thon und Meißel, sah nach der Uhr, und in sechsundfünfzig Minuten war dies Portrait entstanden.“ Drake wies auf die natürlich flüchtige, aber keck charaktervolle Behandlung des Haares. „So etwas,“ sagte er, „bringt man oft mit allem Studiren, aller Mühe nicht heraus. Es ist das Geschenk des Augenblicks.“

Auf den Brettern, Staffeln und Consolen, die regellos hier und da in Drake’s Werkstatt angebracht sind, standen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 651. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_651.jpg&oldid=- (Version vom 30.12.2019)