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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

temporär sich aufhaltender Fremder, im Sommer noch bedeutend verstärkt durch die über den Bodensee in die Schweiz eintretenden Reisenden, deren Ziel das Herz des Alpenlandes ist. Allein trotz alledem und trotz der Unmasse der lohnendsten Ausflüge, die sich von hier aus zu Fuß, zu Wagen oder per Schiff und per Eisenbahn machen lassen, war die Stadt bis heute nie eigentlich ein beliebter Aufenthalt der Reisenden, und erst die neueste Zeit fängt an, das dicke Fremdenbuch aufzulegen. Wohl zählt die Stadt eine Anzahl gut renommirter Gasthöfe; aber das war auch Alles; man scheute lange Zeit die Kosten, den Fremden das Leben angenehm zu machen, bis man endlich die ersten Schritte dazu that, denen bald andere folgten. Denn kaum trat der „Verschönerungsverein“ in’s Leben, um die reizenden Umgebungen Zürichs zugänglicher und die schönsten Aussichtspunkte zu angenehmen Ruhepunkten zu machen, so wird dessen Thätigkeit noch weit durch den Plan der großartigen Quais übertroffen, welche die Seeufer der Stadt bis weit über die Gebiete der nächsten Gemeinden hinaus zu einer prachtvollen Anlage umgestalten sollen.

Während diese Unternehmungen noch in der Ausführung begriffen sind, stellen sich als vollendet im Laufe dieses Jahres zwei große Schöpfungen dar, welche unsere Theilnahme um so mehr beanspruchen, als auch sie vollständig Kinder jener Idee sind, Zürich zu einem Lieblingsaufenthalte der Fremden zu machen. Es ist dies die Uetlibergbahn und die Errichtung der Neubauten auf dem Uetliberge selbst.

Der Uetliberg, im Südwesten der Stadt bis zu einer Höhe von zweitausendachthundert Fuß über Meeresspiegel sanft ansteigend, wurde bisher wie ein echtes Familienstück der Züricher betrachtet. Wohl hatte die geschäftige Hand einen guten Fußsteig hinauf geebnet und die Speculation ein kleines Wirthshaus hinaufgebaut. Aber der Besuch dieses geradezu herrlichen Aussichtspunktes blieb ein äußerst unbedeutender und ein außerordentlich geringer von Seite der Fremden. Der nahe Rigi machte seine magnetische Kraft geltend und seinem Modeglanze gegenüber scheute man zurück vor einer zweistündigen Fußtour auf einen Berg, der nicht in Mode war und von dem es nur einfach hieß, er biete eine schöne Rundsicht. Vergeblich mühten Geologen und Alterthumsforscher sich ab, den Urbau und die Urgeschichte dieser Kuppe zu einer wissenschaftlichen Merkwürdigkeit zu erheben, und wen vermochte es dahin zu treiben, die Ueberreste jener Uetliburg zu betrachten, welche die Züricher unter Rudolf von Habsburg eroberten und zerstörten und damit den Gipfel der Verwilderung preisgaben, bis mit dem achtzehnten Jahrhundert eine neue Zeit für ihn begann; wer wollte es riskiren, das gefährliche, halsbrecherische „Leiterchen“ zu erklimmen, eines Blickes wegen auf See und Stadt; wen endlich interessirte es, den romantischen „Kindlistein“ zu besuchen, an dem sich die Sage freundlich emporrankt und der seither für die Stadt Zürich an die Stelle des kinderbringenden Storches trat? Das Alles vermochte den verkannten Berg nicht zu Ehr und Ansehen zu bringen; nur eine mit Actien und Obligationen überkleisterte Straße konnte ein solches Wunder bewirken.

Der Gedanke der Erbauung einer Bahn auf den Uetliberg, oder wie man ihn nennt den Uto, tauchte im Jahre 1872 auf und schritt, nach der Lösung der Frage über das anzuwendende System, außerordentlich rasch seiner praktischen Verwirklichung entgegen. Seit Mai 1875 dampft die Locomotive in regelmäßigen Fahrten die 9,16 Kilometer lange Linie hinauf und hinunter.

Der Bau der Bahn hatte verhältnißmäßig mit wenig Schwierigkeiten zu kämpfen, weder bedurfte es großer Erdbewegungen, noch hinhaltender und theurer Kunstbauten, das einzige Fatale dabei war der große Umweg bis zur Kopfstation des Berges. Vom Sellnau, dem Westend der Stadt, ausgehend, setzt die Linie gleich außerhalb des Bahnhofes über die linkufrige Seebahn und die oft wilde Sihl hinweg, gewinnt dann allmählich ansteigend den Fuß des Berges, setzt, sich westlich hinziehend, ihren Weg durch herrliche Landschaft fort, bis sie endlich, in den Wald tretend, in gewaltigen Bogen den Berg umschlingt und, scharf ansteigend, in kleineren Curven auf der Höhe des Berges anlangt. Die Steigung beträgt bis zu sieben auf hundert Fuß und wird von der gewöhnlichen Locomotive überwunden. Man dankt diese sich bis zur Stunde vortrefflich bewährende Anwendung den eigenthümlichen Terrainverhältnissen. Bis zum Fuße des Berges ist die Steigung so gering, daß sie ganz bequem mit Locomotiven nach dem gewöhnlichen Princip bewältigt werden kann. Die Anwendung eines besondern Bergbahnsystems war also nicht am Platze, weil unnöthig theuer. Zur Ersteigung des eigentlichen steilen Bergabhanges dagegen wären solche Systeme wohl anwendbar gewesen. Für praktisch noch unerprobte Systeme aber konnte man sich nicht entscheiden, und so entschied man sich denn für dreigekuppelte Tendermaschinen mit Luftbremse und mit Backenbremsen für Vorder- und Hinterachse. Die Maschine befindet sich stets auf der Thalseite des Zuges, um Unfälle durch Brüche von Kuppelungen zu vermeiden, und auf diese Art ist die Fahrt vollkommen sicher, denn wenn sie im Stande war, den Zug hinaufzuschieben, so muß sie ihn in Folge dessen auch bei der Thalfahrt erst recht sicher halten können. Für alle Fälle ist übrigens jeder Wagen mit einer kräftigen Schraubenbremse versehen, welche ihn auch auf der stärksten Steigung anzuhalten gestattet.

So schiebt nun die zischende Locomotive die eleganten vierzigplätzigen Waggons den Berg hinauf, ruhig, ohne Stoß und in anhaltend gleicher Geschwindigkeit. Der Reisende hat Zeit genug, die verschiedenen schönen Ausblicke und Waldlandschaften, die sich ihm während der Fahrt bieten, zu genießen. Kein erschreckender Viaduct, keine beängstigende Böschung, kein beklemmender Einschnitt, kein düsterer Tunnel zieht seine Aufmerksamkeit ab, und in wenig mehr als dreißig Minuten steht er oben auf der Kuppe des Berges, inmitten der herrlichsten Rundsicht. Jeder Train kann achtzig bis hundertzwanzig Personen befördern, und wird der Zudrang stärker, so ist Material genug vorhanden, rasch Alles zu befördern. Zwischen der einen Kopfstation bis zur andern giebt es keinen weitern Halt, und das kleine Lustspielchen fliegt wie unter den Händen gewandter Schauspieler nur so vorüber. Man hat der Uetlibergbahn ein kurzes Leben zugesprochen: ein kurzes, rasches Aufleuchten, ein langsames, stetes Zusammensinken, ein trostloses Erlöschen. Dieses Prognostikon steht schon jetzt gänzlich widerlegt da. Der Besuch der Bahn übertraf die kühnsten Erwartungen: zweitausend bis zweitausendfünfhundert Personen wurden an einzelnen Tagen befördert, Einheimische, wie Fremde, die rührige Stadt und die halblebende Saison stellten die anerkennenswerthesten Contingente. Und wo die Aussicht nicht lockte, da that der fabelhaft billige Fahrpreis das Seine; für drei Franken fährt man hin und her und hat dabei zwei Tage gültige Retourbillets.

Genug: das lustige Pfeifen der Locomotive brachte Leben in die Scenerie. Auf der Bergkuppe wimmelt es an schönen Tagen von Besuchern; die trostlose Einsamkeit des Vergessenseins hat der frisch-lebendigen Emsigkeit der Luftkneipanten Platz gemacht. „Selbst von den fernsten Bergespfaden winken uns farbige Kleider an.“ Und daß es so kommen werde und kommen mußte, das sah der weitere Blick voraus und „der kluge Mann baut vor“. Das kleine Schweizerhaus auf dem Gipfel des Berges hat über Winter einen im gleichen Styl ausgeführten Anbau erhalten, hohe, lichte, freundliche und aussichtreiche Säle geben den zuströmenden Schaaren ein Plätzchen der Ruhe und Erquickung. Gelungene, allegorisch-humoristische Malereien in den Füllungen, in den Zwickels etc. bieten dem Auge wohlthuende Abwechslung, und wie draußen die Heerdenglocke läutet, so klingt drinnen nicht minder lustig Gläserklang fideler Gesellschaft.

Aber das Haupt sucht auch das Plätzchen, wo es sich hinlegt. Wenige Minuten oberhalb des Bergbahnhofs steht, inmitten schöner Anlagen das großartige „Hôtel und Pension Fürst“, Eigenthum des Mannes, dessen rastlosem Eifer wir die Bahn und diese ganze neue Welt verdanken. An zweihundert Personen vermag das im elegantesten Schweizerstyl ausgeführte großartige Hôtel bei comfortabelster Einrichtung zu beherbergen. Es giebt kaum ein zweites Berghôtel in der Schweiz, das diesem an geschmackvoller und praktisch schöner Eintheilung gleichkäme; man nahm bei den Zimmern für die Familien, wie bei denjenigen für den Alleinstehenden gleich sorgfältig Bedacht darauf, daß der Besucher die Schönheit der Aussicht genießen will. Wo immer man in ein Zimmer oder auf einen der zahlreichen Balcone tritt, steht vor uns stets die reizendste Fernsicht, sei es hinunter auf See und Stadt und hinaus über den Bodensee bis

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 650. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_650.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)