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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

richtete er eine hastige Frage in Betreff der Fehlenden an mich. Ich konnte ihm nur mit Achselzucken die leise Erwiderung geben, daß wir sie bestimmt erwarteten. In der That wurden wir noch vor Beendigung unseres Vortrages dadurch gestört, daß Fräulein Adrianoff am Arme ihres Bruders eintrat. Die Generalin war nicht mit erschienen, und Wéra erklärte sogleich, daß sie nur eine Stunde bleiben könne – dringender Abhaltung wegen, sie habe aber doch, um nicht ganz wortbrüchig dazustehen, wenigstens für die kurze Zeit kommen wollen. Sie war liebreizend wie immer, und ihre Schönheit ist eine derartige, daß man jedesmal zu glauben versucht ist, man habe sie noch nie so bezaubernd gesehen. Sie blieb für einige Zeit so umringt, daß es mir nicht gelingen wollte, mich ihr zu nähern, als sie indeß meiner ansichtig wurde, kam sie zu mir, nahm meinen Arm und begann mit mir auf- und abzugehen.

„Wie kommt es nur, daß Sie nicht bleiben können?“ fragte ich sie.

Ein Schatten glitt über die feinen Züge meiner Begleiterin. „Ich kann nicht; o, fragen Sie mich nicht!“ lautete ihre Antwort. „Und doch, Sie wissen schon so Vieles, daß ich Ihnen auch dieses noch mittheilen muß. Sie haben sicher erfahren, wie geschäftig die Verleumdung sich meiner bemächtigt hat. Gestern war nun eine Dame bei uns, die mich warnte, am Donnerstage zu Branikow’s zu gehen, denn man sage in der ganzen Stadt, meine Eltern hätten Herrn Hirschfeldt das Haus verboten, und weil er nicht zu uns kommen dürfe, hätten wir uns bei Madame Branikow Rendezvous gegeben. Ich bin trotzdem gekommen, damit die Dame nicht glaube, sie habe mich eingeschüchtert, aber Sie begreifen, daß ich nicht bleiben kann.“

„Das ist in der That traurig. Auf die Weise werden Sie uns niemals besuchen können,“ sagte ich, wirklich erschrocken.

Wéra lächelte matt. „Seien Sie ruhig!“ erwiderte sie. „Ich werde wiederkommen, ich werde Mittel und Wege finden es für ein anderes Mal möglich zu machen, aber bitte, Fräulein Helene, helfen Sie mir heute! Ich muß mit Alexis einige Worte sprechen, verschaffen Sie mir die Möglichkeit dazu! Sie können nicht die entfernteste Ahnung davon haben, wie unglücklich ich bin.“

Ihre zierliche kleine Hand schloß sich dabei krampfhaft und leise bebend um die meinige. Ich sagte mir selber, daß ich vielleicht die unverantwortlichste Thorheit, ja sogar ein Unrecht begehe, indem ich ein Verhältniß begünstige, welchem zum wirklichen Wohle der Nächstbetheiligten besser so bald als möglich für immer ein Ende zu wünschen sei; da aber das junge Mädchen mich ansah mit einer so verzweifelten Bitte in der Tiefe ihrer großen seelenvollen Augen, hieß ich meine Bedenken schweigen. Armes Kind! Die Qual im eigenen Herzen ließ mich zu deutlich ermessen, was sie leiden mußte, und das meinige ist doch bereits in harter Lebensschule gestählt, in Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung geübt. Doch sie? Was soll aus ihr werden? Als ich suchend meinen Blick umhersandte, entdeckte ich den Capellmeister, welcher neben der Thür, die vom Musiksaale in den Salon führt, an einem Pfeiler lehnend, auf Olga Nikolajewna hörte, die vor ihm stand und in ihrer quecksilberigen Lebendigkeit auf ihn einredete.

„Halten Sie sich in der Nähe des Flügels!“ sagte ich leise meiner Begleiterin und entfernte mich dann mit einer ceremoniösen Verbeugung von ihr, um nach einer Weile mich Hirschfeldt zu nähern. Ich ersuchte ihn, über die demnächst vorzutragenden Musikstücke Verabredung mit mir zu treffen und er begleitete mich sofort an den Flügel, wo wir in den Notenheften blätterten und wo nach kurzer Zeit auch Wéra sich einfand, um ihre Aufgabe für ein nächstes Mal zu erbitten. Ich überließ die Beiden alsbald sich selber. Sie begannen eine Unterhaltung in deutscher Sprache, von der ich mich bemühte nichts zu verstehen, aber ich sah mit Bewunderung, wie völlig ruhig und unbefangen Hirschfeldt äußerlich blieb und sprach, während doch das Heft in seiner Hand merklich bebte. Wéra, die bei Weitem nicht seine Selbstbeherrschung kennt, erregte mir Unruhe. Ihre Blicke erglänzten mit jeder Minute fieberhafter; ihre Worte nahmen dringendere, betheuernde Accente an; ich hielt es für durchaus gerathen, mich endlich mit einer gleichgültigen Phrase in das Gespräch zu mischen und die junge Dame begriff meine Absicht, demselben ein Ende zu machen auch sofort. Sie fuhr sich mit ihrem duftigen Spitzentuche über die heißen Wangen, preßte es eine Secunde lang auf ihre feuchten Augen und sah mich mit einem Lächeln an, das mir wehe that, da ich verstand, welche furchtbare Anstrengung es sie kostete.

„Dank Ihnen!“ flüsterte sie mir unter einem warmen Händedrucke zu, und in der folgenden Minute bereits durchschritt sie in ihrer unnachahmlich graziösen Weise den Saal, um sich bei Madame Branikow zu verabschieden. Nach allen Seiten grüßend und von ihrem Bruder geführt verließ sie die Gesellschaft. Als ich den letzten Schimmer ihrer feenhaften Gestalt verschwinden sah, dämmerte eine Ahnung in mir auf, klar und immer klarer, daß es ein glänzendes Elend giebt, schlimmer als jedes andere, welches uns doch wenigstens die Freiheit des eigenen Willens im Kampfe mit diesem feindlichen Leben läßt.

Zwei junge Damen sollten jetzt mit Violinbegleitung ein Duett singen. Ich glaubte mich in dem Augenblicke von Niemandem beobachtet und zog mich, gedrückt in meinem Herzen und traurig zum Sterben, in einen Winkel hinter zwei riesige Blumentische zurück, um meinen Gedanken nachzuhängen. Kaum hatte ich jedoch meinen Platz eingenommen, so stand, wie aus der Erde gewachsen, Hirschfeldt vor mir. Er sah nicht oder wollte nicht sehen, daß ich erschreckt zusammenfuhr.

„Sie haben soeben ein gutes Werk gethan,“ sagte er, und jede Fiber meines Herzens zuckte bei dem sympathischen Klange dieser männlich kräftigen und doch in dem Augenblicke weich gedämpften Stimme.

Meine Finger preßten sich mechanisch ineinander, und es gelang mir, ihm in kühl reservirtem Tone zu antworten. „Das ist noch nicht gewiß. Ich selbst bin mit mir durchaus nicht darüber im Klaren.“

Er machte eine Bewegung, und aus seinen Augen glänzte fragendes Erstaunen.

„Aufrichtig gesagt,“ fuhr ich unbeirrt fort, „kenne ich Sie noch nicht genug. Ich suche erst zu enträthseln, ob man sich auf Sie verlassen kann.“

„Auf mich?! Fragen Sie Fräulein Wéra, die wird es Ihnen sagen.“

„Fräulein Adrianoff wird mir nichts Schlimmes von Ihnen sagen,“ entgegnete ich, „aber wissen Sie, daß man übrigens sehr viel Böses von Ihnen spricht?“

„Von mir? Glauben Sie es nicht!“

Ich spielte mechanisch mit meinem Fächer, dann erhob ich meinen Blick zu dem jungen Musiker und sagte mit ruhiger Festigkeit: „Wenn ich Alles glaubte, was man über Sie redet, so spräche ich jetzt nicht mit Ihnen und würde es noch viel weniger Ihnen wiedererzählen. Es sind aber so viele Geschichten von Ihnen im Umlaufe, daß, wenn nur die Hälfte davon auf Wahrheit beruhte, Sie ein gefährlicher Mensch sein müßten.“

Seine Stirn zog sich zusammen. „Sie werden mir Alles wiedererzählen,“ stieß er hastig hervor.

„Das werde ich nicht thun.“

„Doch, als gute Collegin müssen Sie es thun. Sie müssen mir beistehen, Fräulein Helene, denn Sie wissen nicht, von wie viel Feinden ich umringt bin.“

„Das weiß ich, ohne daß Sie es nur sagen,“ antwortete ich, immer bemüht, jedes meiner Worte, jede Miene so zu beherrschen, daß sie keine Spur von der Spannung ahnen ließen, die mein Herz während dieser wunderlichen Unterredung rascher und immer rascher klopfen ließ.

Der Capellmeister hatte sich gleich zu Anfang auf einen Sessel mir gegenüber niedergelassen. Er rückte mir jetzt um ein Weniges näher, und in seiner Stimme zitterte ein seltsamer Ton innerer Erregung, als er wieder begann: „Handeln Sie als Freundin an mir! Wir sind Collegen und müssen zusammenhalten. Sie können mir große Dienste leisten, wenn Sie mir mittheilen, inwiefern man Nachtheiliges über mich spricht, und mich so meine Feinde kennen lehren, damit ich immer vorbereitet bin. Sie sagen, Fräulein Helene, Sie kennen mich noch nicht genug, ich will Ihnen sagen, wie ich bin. Ich bin ein Mensch,“ fuhr er fort, und seine Stimme ward leidenschaftlicher erregt, „dem es unmöglich ist, in der breit getretenen Bahn des Gewöhnlichen fein still und bescheiden die vorgeschriebene Straße zu ziehen. Es ist ein unbestimmtes, unerklärbares Etwas in mir, das mich vorwärts treibt und stößt,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 646. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_646.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)