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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

ihre Vortrefflichkeit einen wirklichen Genuß, so daß ich ihr, wie leicht begreiflich, mein Interesse weit mehr zuwendete, als der Vorstellung selbst.

Den Platz vor dem Dirigentenpulte nahm ein schlanker, junger Mann ein, von dessen Antlitz, da wir in einer Seitenloge saßen, mitunter eine scharf geschnittene Profillinie mir sichtbar ward; im Uebrigen sah ich von seinem Kopfe nur eine etwas regellos zurückgeworfene Masse schwarzen Haares. Es gab trotzdem etwas in der Erscheinung dieses Mannes, das meine Blicke unwillkürlich anzog. Vielleicht war es der Eifer, mit dem er die Töne zu leiten, gleichsam zu beherrschen schien.

Ich saß in mich selber verloren, aufhorchend, als plötzlich – giebt es wohl eine geheimnißvolle, unsichtbare Gewalt, welche die Gedanken zweier Menschen zwingt, einander zu begegnen, ihre Seelen gleichsam, sich zu antworten? – als plötzlich, da die Schlußaccorde des Tonstückes verrauschten, der Capellmeister sich jäh umwandte, und uns sein bleiches, ausdrucksvolles Gesicht voll zukehrte. In dem Moment war es, wo die dunkelglühenden Augen sich zum ersten Male auf mich richteten, wie blitzschnell eine überraschte Frage in ihnen aufleuchtete. Oder sollte das nur eine Täuschung meiner eigenen erregten Phantasie gewesen sein? Sah ich etwa nicht deutlich, wie die schwarzen Brauen sich zusammenzogen, als wolle ihr Besitzer, schärfer sehend, zugleich seine Erinnerungen wecken? Bis in’s innerste Herz erschrocken verbarg ich das Gesicht hinter meinem Fächer und wagte erst später im Laufe des Abends, als das langweilige französische Lustspiel unsere Aufmerksamkeit eben nicht zu sehr fesselte, eine Frage an unsern Gebieter, um mich über die Persönlichkeit des interessanten Musikers zu orientiren.

Ueber Iwan Alexandrowitsch’s Gesicht lief ein breites Lächeln. „Ei, ei, mademoiselle Hélène,“ sagte er und drehte wohlgefällig seinen glänzend gewichsten Schnurrbart, „nehmen Sie sich in Acht! Dieser Regimentscapellmeister ist ein Teufelskerl, der allen Frauenzimmern die Köpfe verdreht. Diverse Ehemänner und Mütter in Woronesch wissen davon ein Lied zu singen, und Madame Adrianoff nicht am wenigsten.“

Selbstverständlich war mir nach der Erwiderung die Lust am Fragen vergangen. Zum zweiten Male erschreckt und in Verlegenheit gesetzt, zog ich mich in den Hintergrund der Loge zurück, aber es erregte mir eine äußerst widerwärtige Empfindung, Olga Nikolajewna zu sehen, wie sie mit ganz unverhülltem Interesse zu dem jungen Musiker hinüberlorgnettirte und dann unserem Gebieter eine Bemerkung zuflüsterte, die einen kaum zu unterdrückenden Ausbruch der Heiterkeit bei ihm hervorrief.

Ob sich ein leidlich freundliches Verhältniß zwischen der Gouvernante und mir entwickeln wird, ist mir überhaupt in den letzten Tagen mehr als zweifelhaft geworden. Es handelte sich endlich um ein paar Zimmer für uns, das eine, im ersten Stock, groß, hell und freundlich decorirt, mit breiten Fenstern nach der Straße, das andere, eine Treppe höher, mit niedriger Decke, schmutzigen, weiß getünchten Wänden und kleinen Scheiben. Ich überließ sofort das Erstere an Olga, da ich zu bemerken glaubte, wie sehr sie dessen Besitz erstrebte, und wartete geduldig, bis man in das zweite eine mäßig hübsche Tapete geklebt hatte. Dann stellte ich meine Toilette mit rosa Umhang hinein, ebenso mein Sopha mit Tisch und Teppich und einen Schirm mit rosafarbigem Bezuge vor mein Bett. Ich hing meine Bilder auf und über der Kommode ein Regal mit meinen hübschesten Büchern, dann Gardinen, und siehe da – es war das wohnlichste kleine Stübchen. Als Olga kam, mich zu besuchen, gerieth sie außer sich vor Erstaunen, fand ihr eigenes Zimmer abscheulich, wollte es nicht mehr sehen und durchaus mit mir tauschen. Natürlich behandelte ich letzteres Verlangen als Scherz, gewann aber in mir doch die Ueberzeugung, daß sich mit einem so launenhaften Wesen nicht leicht werde leben lassen.

Wir haben in dieser Zeit so viele Besuche empfangen und gemacht oder Karten abgegeben, daß mir von all den fremden Namen und Gesichtern ganz wirbelig geworden ist.

Auf übermorgen zum Thee hat Madame Branikow viel Besuch eingeladen, auch die Adrianoff’s. Es soll musicirt werden. Der Violin und Violoncellspieler sind engagirt, und ich übe verschiedene Trios dazu ein, darunter ein großes, sehr schweres von Hummel. Ein wenig ängstigt mich doch der Gedanke an dieses Vorspielen im größeren Kreise.


Den 15. October.

Gestern war unser erster Musikabend. Blamirt habe ich mich wenigstens nicht, und das Zusammenspiel gewährte mir unendliches Vergnügen. Madame Branikow’s schöne Empfangzimmer strahlten im Glanze von Lichtern und Blumen. Ihre Ausschmückung mit Letzteren und vielen immergrünen Gewächsen durch den Gärtner hatte ich selbst geleitet. Es machte mir Freude, und als ich dann vor Ankunft der Gäste durch die prächtig glänzenden Räume ging, erschien mir Alles fast wie ein bunter Traum aus „Tausend und eine Nacht“.

Die Gestalt in bauschender, grauer Seidenrobe, einfach aber doch elegant, die mir aus einem der hohen Spiegel entgegenschaute – war das wirklich ich selbst? Ich, Helene Heimreich, die vor noch nicht allzu viel Jahren als kleines Schulmädchen in der Einsamkeit meiner ländlichen deutschen Heimath durch Wald und Flur gestreift war, ohne eine Ahnung von dem halb orientalischen, märchenhaft üppigen Luxus, inmitten dessen ich mich jetzt, aus meinem Nachsinnen erwachend, wiederfand? Zenaïde Petrowna empfing ihre Gäste in starrend schwerer kaukasischer Seide und mit lächelnder Anmuth. Sie war wirklich schön, da sie endlich einmal ihre Trägheit abstreifte und die kohlschwarzen Augen glänzend ihr bleiches Antlitz belebten.

Nach der glücklichen Beedigung meines ersten Trio war ich eben beschäftigt, den Dienern Befehl zum Serviren von Eis und eingemachten Früchten zu geben, als plötzlich mein Ohr eine Bewegung am Eingange des Salons vernahm. Die Adrianoff’s waren noch nicht gekommen – sollten vielleicht sie es sein, die jetzt eintraten? Ich beeilte mich, zu meiner Gebieterin zurückzukehren, und schloß im nächsten Augenblick wie geblendet die Augen, um sie dann, von Interesse erfüllt, nur um so weiter zu öffnen.

Neben Madame Branikow stand eine junge Dame, wie ich sie von so hinreißender Schönheit noch nicht glaubte gesehen zu haben. Groß und schlank, den in den Formen einer Juno gemeißelte Oberkörper leicht und graziös auf den Hüften wiegend, das anmuthig zurückgebogene Haupt von dem prachtvollsten, goldblonden Haar in Flechten und zwanglos herabfallenden Locken umrahmt, stand sie und lauschte mit liebenswürdigem Lächeln auf die vielen verbindlichen und schönen Dinge, die ihr von allen Seite über ihre Rückkehr gesagt wurden. Die feinen Lippen lächelten, und doch schien es mir, als läge über dem entzückend lieblichen Antlitze neben allem Schmelz und Zauber der ersten Jugendblüthe ein leiser, leiser Hauch von Sentimentalität und in den großen rehbraunen Augen ein kaum bemerkbarer Zug von Melancholie. Ich war in dem Anschauen der reizenden Fremden noch ganz und gar vertieft, und es bedurfte erst der directen Anrede Constantin Feodorowitsch’s, um mich neben ihr sein ungewöhnlich vergnügtes Gesicht erkennen zu lassen.

Mein freudiges Erstaunen schien ihm sichtlich zu gefallen. „Mademoiselle Helene“, sagte er und nahm die Hand der jungen Dame, „endlich heute bringe ich Ihnen meine Schwester Wéra. Sie hat sich wie ein Kind auf diesen Abend und auf die Bekanntschaft mit Ihnen gefreut. Im Geiste sehe ich schon, wie Ihr Beide über Musik plaudern werdet, ohne noch einen Gedanken für irgend etwas Anderes übrig zu behalten.“

Wéra streckte mir aus dem Spitzenärmel ihres duftigen, weißen Kleides die zierlichste, weiche kleine Hand entgegen, die ich noch je in den meinigen gehalten, und sagte mir so viel Liebenswürdiges und Angenehmes, wie sie mich aus den Erzählungen ihres Bruders schon kenne, und wie sie nun durch meine persönliche Bekanntschaft auf manche genußreiche Stunde hoffe, daß ich von diesem Uebermaße an Güte vollständig in Verlegenheit gesetzt wurde.

Sie begleitete mich dann an den Flügel, und in jeder Bewegung, in jedem ihrer Worte erschien sie mir wie die verkörperte Anmuth und Grazie. Ich trug mit Eifer und doppelter Lust meine schwerste Pièce vor, weil ich hoffte, ihren Beifall zu gewinnen, und mehr noch, um dem liebenswürdigen Geschöpfe womöglich Vergnügen dadurch zu bereiten. Letzteres gelang mir auch anscheinend vollkommen. Fräulein Adrianoff spielte auf stürmisches Bitte von allen Seiten ebenfalls mit Geschmack und viel Fertigkeit mehrere Stücke, und sagte mir auch, Madame Branikow habe sie eingeladen, jeden Donnerstag an unserm

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 615. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_615.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)