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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


No. 35.   1875.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.


Hund und Katz’.
Eine Geschichte aus dem bairischen Oberlande.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


Mit großer Anstrengung war es Sylvest allmählich gelungen, außer der Hütte, die keinen Schutz mehr bot, einen festen Standpunkt zu gewinnen, der es ihm möglich machte, den Zustand des Fahrzeuges näher zu beobachten; trotz seines Muthes gewahrte er mit Schaudern, daß es eigentlich durch nichts mehr zusammengehalten wurde, als durch die Wucht der eigenen Schwere, jeder verstärkte Windstoß, jeder dadurch gesteigerte Wellenanprall konnte es völlig auseinander treiben und das schauerliche Grab unter seinen Füßen öffnen.

Aber diese Verstärkung, diese Steigerung schien ausbleiben zu wollen.

„Was ist denn das?“ rief Sylvest und richtete sich hoch auf, wie um zu horchen. „Das ist ja gar, als wenn der Wind umspringen wollt’. Es ist wahrhaftig so; die Scheer’ fangt auf einmal schneller zu treiben an. Wir müssen in die Ammergüsse hineingekommen sein. Wenn es uns vielleicht dem Gestad’ zutreiben thät! Heiliger Gott! Wenn wir vielleicht doch noch hinaus kommen sollten!“

Behutsam ließ er das noch immer halb bewußtlose Mädchen am Thürgerüste nieder und schwang sich mit der Schnellkraft erneuter Lebenshoffnung auf das schwankende Hüttendach, um einen weiteren Ausblick zu gewinnen, sofern dies bei der herrschenden Dunkelheit möglich war.

Ein Freudenschrei entrang sich unwillkürlich seiner Brust, als er die Warte erreicht hatte; dort in grauem Dunkel, wohl noch weit entfernt, aber seinem scharfen und geübten Auge vollkommen erkennbar, ragten schwarze Gestalten in lang gedehnter Reihe empor; es waren Bäume, und die Reihe, die sie bildeten, war das Gestade, das sie besäumten. Sturm und Gestöber hatten nachgelassen. Der erst gegen Mitternacht erscheinende Mond erhellte unsichtbar das Gewölk, und in seinem matten Scheine trieb die lecke Scheere zwar langsam, aber entschieden den Bäumen zu.

Ein Stück Brett, von der Hütte losgerissen, diente Sylvest dazu, den Gang zu beschleunigen und wie mit einem Steuer zu leiten – noch einige bange Minuten – da verrieth ein starker Stoß, daß das seichte Wasser erreicht war und das Fahrzeug den Grund berührt hatte; es krachte und schütterte in allen Fugen, aber es hielt. Wenige Augenblicke noch, und Sylvest hatte, die Strandfuhrt durchwatend, seinen Schützling an’s Ufer getragen.

Es war in der Nähe eines Dorfes. Ueber die schwarzen Baumgerippe stieg ein uralter Kirchthurm finster empor; unter denselben verkündete das erhellte Fensterchen einer Hütte, daß dort ein wachend Menschenauge den vorigen Tag noch nicht beschlossen oder den neuen bereits begonnen habe.

Es währte geraume Zeit, bis Kuni sich ganz zu sammeln vermochte und die volle unglaubliche Wirklichkeit der unerwarteten Rettung begriff. Dann hatte sie keinen Ausdruck für das Glück, das in ihre Seele einzog, als dieselben Thränen, welche die Boten ihrer Verzweiflung gewesen. Sie fiel auf die Kniee nieder; sie faßte den sicheren festen Boden mit beiden Armen an, um sich zu vergewissern, daß nicht mehr das entsetzliche Fahrzeug unter ihr schwanke, daß nicht mehr ein dünnes schwankes Brett sie vom Abgrunde trenne. Dann hob sie die Arme zum Himmel empor und stammelte nur ein paar Mal ein halblautes „Dank, Dank!“ in denselben empor. Sie fand keine Worte für all die Gedanken und Gefühle, die mit Einem Mal auf sie einstürmten. Es war dunkel und feierlich in ihr wie eine Sommernacht, aber erhebende Vorsätze durchfunkelten, schöne Entschlüsse durchblitzten sie, hell und klar wie die Gestirne derselben. Thränen erleichterten ihr endlich die Brust, als sie des Vaters gedachte, dem sie wiedergegeben war, und der unsäglichen Freude des Wiedersehens.

„Freust Dich, Mädel?“ fragte Sylvest, der indeß den Floß so gut wie möglich befestigt hatte und eben wieder zurückkam. „Hast auch alle Ursach’ dazu. Die Fahrt macht uns so leicht Niemand nach; es ist schier ein Wunder, daß wir so davon gekommen sind. Du mußt gut steh’n mit Deinem Schutzengel, Mädel, denn mit mir, glaub’ ich, hätt’ sich Keiner so viel Müh’ gegeben.“

Kuni’s Brust war voll bis zum Zerspringen. Sie wollte überströmen von Dank, aber es war etwas in ihr, was den Strom hemmte, daß er nur innen wie gefangen auf- und niederwallte und nicht nach außen zu dringen vermochte. Verwundert und wie erwartend, sah Sylvest sie einige Augenblicke an, dann deutete er nach dem erleuchteten Fenster und fuhr gelassen fort:

„Ich mein’, Du solltest dort in das Haus geh’n und eine warme Nachtherberg’ suchen. Ich sorge, Du könntest sonst krank werden von dem Schrecken, von der Nässe und Kälte; es sind ordentliche Leute, bei denen Du gewiß gut aufgehoben bist. Kannst ja sagen, daß Du Dich verirrt hast und in einen Graben

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 581. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_581.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)