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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


so war dies für junge, feurige Köpfe mehr als verzeihlich. Denk’ ich heute noch jener Tage – –‘ Er beendete den Satz nicht (wie blieb mir doch jedes Wort, jede Miene dieses Abends in’s Gedächtniß gegraben!), da unser Hausmädchen eben herantrat und ihm meldete, daß ihn Jemand zu sprechen wünschte.

‚So spät?‘ sagte er verwundert, erhob sich und ging in das Haus.

Was ich eben vernommen, hatte einen Wirbel von Gedanken in mir aufgeregt; ich wagte nicht, das unterbrochene Thema fortzusetzen, dem ich ohnehin eine stumme Zuhörerin geblieben war, und fand ebenso wenig den Uebergang zu etwas Allgemeinem. So schwieg ich und sah in das durchsichtige Halbdunkel hinaus, das sich über den Garten breitete. Allmählich fing aber die Pause an mir bedrückend zu werden, und ich wandte mich mit einer Bemerkung über die Stille solcher Sommernacht Rainer zu. Sein Gesicht erschien mir in dem dämmerigen Sternenlichte so ungemein blaß, daß mir plötzlich sehr bange wurde.

Er antwortete mir nicht, sah mich aber unverwandt an. Mit einem Male bog er sich über den Tisch hinweg zu mir herüber und sagte erregt: ‚Sie wissen nun, weshalb ich Sie nicht früher wiedersah.‘

Ich bewegte die Lippen doch fühlte ich mich nicht Herr meiner Stimme und blieb stumm.

‚Dachten Sie überhaupt je daran, daß wir uns wiedersehen sollten?‘ fragte er und sein meist so stilles Auge wurde dunkel. Ohne meine Antwort zu erwarten, fuhr er in kurzen, abgebrochenen Sätzen fort: ‚Sie wissen es jetzt. Als ich damals von Ihnen ging, hoffte ich auf eine Zukunft. Es kam anders. Sobald mir Freiheit wurde, suchte ich Sie auf. Sie lebten nicht mehr in München. Ich forschte weiter, da ich aber keinen weiteren Anhalt hatte, als Ihren Namen, glückte es mir nicht, Sie zu finden. Auch wäre ja schon Alles zu spät gewesen, viel zu spät. Nun habe ich Sie wiedergesehen. Ich muß es tragen – wir – wir müssen es tragen.‘

Er brach gewaltsam ab und fuhr zusammen. Es lohte heiß über sein Gesicht. Der kräftige Schritt Deines Vaters kam über den Kies zu uns herüber. Er sah stark erregt aus; über seinen Augen lagen tiefe Falten. ‚Das war eine merkwürdige Mittheilung, wozu ich eben hineingerufen wurde,‘ sagte er und ließ sich schwer in den Sessel fallen. ‚Sollten Sie es für möglich halten, Rainer – der Rentamtmann von A. ist eines namhaften Cassendefectes überwiesen und bereits in Haft. – Wer hätte dem Manne Solches zugetraut! Er galt überall als Ehrenmann. Was ihn wohl soweit gebracht hat? Häusliche Sorgen? Schulden? Er hat eine starke Familie, das ist wahr – aber doch – weiß Gott!‘ Er schüttelte den Kopf und berührte Rainer’s Arm, indem er ihm sein ehrliches, von der Kunde durchschüttertes Gesicht voll zuwendete. ‚Alles, Rainer, Alles!‘ sagte er mit aufleuchtendem Blicke voll Nachdruck – ‚Alles – nur kein Schurke sein!‘

Rainer zuckte zusammen, als hätte ihn plötzlich eine Flamme versengt, und stand mit unwillkürlicher Bewegung auf. Seine Hand schloß sich fest um die Lehne des Sessels; er sah mich über die Schulter meines Mannes hinweg einen Augenblick an. Es war ein Blick voll unaussprechlicher Qual. Dann wandte er sich ab, fuhr sich flüchtig mit der Hand über die Stirn und nahm den eben verlassenen Sitz wieder ein. Seine Stimme klang gelassen, wie immer, als er Deinem Vater auf die Details antwortete, welche derselbe von der erhaltenen Mittheilung gab.

Delbring sah zufällig nach mir hinüber. ‚Friert Dich, Therese?‘ sagte er; ‚Du bist ganz blaß.‘

‚Es wird kühl; ich will hineingehen – gute Nacht!‘ sagte ich stammelnd, und ging in das Haus. Welche Nacht! – Als sie aber hinter mir lag, fühlte ich mich getroster. Der Entschluß, Deinem Vater offen zu sagen, wie mir zu Muthe war, mußte uns Allen helfen – freilich um den Preis seiner eigenen, heiligen Ruhe. Dies blieb uns erspart. Als er aus dem Bureau zum Mittagstische kam, sah ich auf den ersten Blick, daß ihn etwas verstimmte, doch pflegten wir in Gegenwart der Kinder, der ab- und zugehenden Dienstleute niemals Persönliches zu berühren. Sobald wir allein waren, kam es zum Vorscheine.

‚Freilich bin ich verstimmt,‘ sagte er auf meine erste Hindeutung, ‚und habe wohl Ursache dazu. Rainer will fort. Was sagst Du dazu? Und es ist keine Rede davon, ihn halten zu können. Schon lange war ihm anzumerken, daß ihm etwas im Kopfe spukt – er ist ja seit Monaten ein völliger Eremit geworden. So oft ich fragte, hieß es: ‚Familienangelegenheiten‘ – nun, ich dränge mich nicht in die meiner Freunde. Jetzt ist es aber heraus. Seine verwittwete Schwester scheint mit ihren Haus- und Kindersorgen nicht zurechtkommen zu können; irgend ein Proceß ist dort im Gange, kurz, sie meint ihn durchaus in ihrer Nähe zu brauchen, und er will sich brauchen lassen. Als ob ich ihn nicht auch brauchte! Der wird mir nie ersetzt – uns Allen nicht; seines Gleichen wächst nicht viel.‘

Nun durfte ich schweigen. – Wir begegneten uns in den nächsten Tagen nur vorübergehend; Rainer arbeitete unablässig, um seinem Nachfolger, der bereits verschrieben war und den er abzuwarten versprochen, keinerlei Rückstände zu hinterlassen. Bald traf der Andere ein –“

Beide Hände im Schooße gefaltet, versank Frau Therese in Schweigen.

„Und dann – kam das Scheiden?“ fragte Linda halb flüsternd.

Die Mutter lächelte eigenthümlich. „Ehe Rainer abreiste, frühstückte er auf Deines Vaters Wunsch mit uns in dessen Zimmer. Wir konnten Alle nicht recht zu Worte kommen. Da sprangst Du herein, Linda, schautest uns der Reihe nach an und sagtest zu mir: ‚Ei, warum seid Ihr denn so traurig, daß der Onkel Rainer fortgeht? Es ist ja schon ein neuer im Bureau.‘

Dein Vater lachte; Rainer nickte mit leisem, bitterem Lächeln vor sich hin, sah nach seiner Uhr und stand auf. ‚Ist es wirklich schon Zeit für die Post?‘ fragte Delbring. ‚Ich begleite Sie – erlauben Sie mir nur noch ein Wort an den Schreiber.‘

Rainer stand mir gegenüber, schon den Hut in den Hand. Er sah durchscheinend blaß, aber ganz ruhig aus. ‚Haben Sie Dank für alle Freundlichkeit, gnädige Frau!‘ sagte er halblaut, ‚und – vergessen Sie, was ich gefehlt habe!‘ Ich war außer Stande, zu antworten. Unsere Hände lagen einen Augenblick in einander; unsere Augen sagten sich Lebewohl, über die Lippen kam das Wort nicht. Dein Vater meldete sich bereit, und beide Männer gingen von dannen.

Kurze Zeit darauf dröhnte der schwere Postwagen an unserm Hause vorüber. Als mein Mann heimkam, trat er für einen Moment bei mir ein. ‚Ich soll Dir noch Grüße bestellen, Therese. Warum hast Du Dich aber von unserm Rainer so kalt verabschiedet? Du hättest ihm wohl zum Abschiede einen Kuß spendiren können!‘

Sein treuherziges Auge blickte mich voll Freundlichkeit an; da fiel ich ihm um den Hals und mußte weinen.“ –

„Und Rainer?“ fragte Linda nach einer Pause; „was ist aus ihm geworden?“

„Er schrieb ein paar Mal an Papa, dann schlief der Briefwechsel ein, wie alle Privatcorrespondenzen meines Mannes, die ich ihm nicht im Laufe der Zeit abnahm. Doch erfuhren wir später Manches aber unsern Freund – oft und öfter; nicht durch ihn selbst, wohl aber durch die Stimme der Oeffentlichkeit. Ich nannte Dir nur seine Vornamen; der andere Name, den er trägt, gehört zu jenen, die unser Vaterland heute mit Stolz zu den seinen zählt. – Sein Leben hat sich reich erfüllt.“

Mutter und Tochter verstummten. Kaum ein Athemzug regte sich in dem schwacherhellten, lautlosen Zimmer. Da schlug es vom Thurme elf Uhr.

„Komm nun zur Ruhe, mein Kind!“ sagte Frau Therese, indem sie sich gelassen erhob und liebkosend aber Linda’s Haare strich.

Das junge Mädchen glitt auf die Kniee nieder und drückte ihr Gesicht in der Mutter Gewand. „Ich habe Dich verstanden,“ sagte sie mit schüchterner Innigkeit. „Du gabst mir viel – habe Dank! – Es war wohl anders, aber auch Dir war es die eine, einzige Liebe.“ Sie preßte ihre Lippen auf Frau Theresens Hand. „Ich kenne Dich, Mama; ich sehe Dich Tag um Tag, Jahr um Jahr für Andere leben, um Andere sorgen; Freud’ und Leid der Deinen ist allezeit Deine Freude und Dein Leid; Du tröstest die Armen und hilfst ihnen. Du hast meinen Vater allezeit glücklich gemacht, und wir sind ganz Deine Kinder – Deine Liebe hast aber auch Du nicht besitzen dürfen. Verzeih’

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 579. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_579.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)