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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


von auswärts eintreffenden Briefe, soweit sie nicht von den Bahnhofs-Postämtern bereits direct bestellt sind, zusammen. Wenn eine wichtige Post, vom Rhein, von England, Frankreich oder Süddeutschland eingetroffen ist, entspinnt sich in jenem Saale ein heißer Kampf gegen die Festungsmauern von Briefen, die schier endlos sich aus den vollen Briefsäcken aufthürmen. Mehr als zwanzig Sortirer laufen Sturm gegen diese Mauern, bis die Bresche größer und größer wird. Ein mächtiger Aufbau mit Fachwerken, in dem jedes der vierhundert Briefträger-Reviere Berlins seine Abtheilung hat, nimmt die Briefe auf, die zunächst nach den Berliner Postbezirken N., W., N. W. etc., sodann aber nach Postämtern getrennt und endlich nach den einzelnen Revieren vertheilt werden. Bemerkenswerth ist die Sicherheit, mit der die Sortirer die zahlreichen Handelsfirmen Berlins: A. Meyer, S. Meyer, B. Cohn , J. Cohn, S. Müller etc. unterscheiden; sie haben mit vollem Rechte Anspruch auf eine Art Brief-Unfehlbarkeit. Dabei muß die Arbeit ebenso schnell wie sicher von Statten gehen; denn draußen warten Hunderte von Briefträgern und zuletzt Tausende von Geschäftshäusern, Behörden etc. auf das tägliche Manna an Briefen, das neue Arbeit, neue Werthe schafft, – so reiht eine unabsehbare Kette wirkender, belebender Kräfte sich an einander.

Unser nächster Artikel soll einer Schilderung der „fliegenden“ Bahnhofsämter gewidmet sein. –

G. T.


Das Geständniß einer Frau.
(Schluß.)

In der Sennhütte.
Nach der Natur aufgenommen von Louis Braun.

„Abends, während die Sonne unterging,“ fuhr Frau Therese in ihrer Erzählung fort, „ruderten“ wir zurück und wanderten zusammen durch die hellen Wiesen, an denen ich Morgens so leichtherzig vorübergekommen war, nach Prien. Ich mochte nicht sprechen und pflückte hier und da eine Feldblume. So war ich den andern Beiden um einige Schritte nachgeblieben, als ich sah, daß sich Rainer an einer Stelle, wo sich ein Weg nach links abzweigte, von meiner Mutter verabschiedete. Sie blickte nach mir zurück, winkte und setzte ihren Weg langsam fort.

Ohne es selbst zu wissen, war ich stehen geblieben, und schon stand Rainer neben mir.

‚Leben Sie wohl, Fräulein!‘ sagte er zögernd. ‚Mein Weg führt hier ab; der Freund, mit dem ich nach Tyrol reise, erwartet mich in Seebruck.‘

Ich antwortete nichts, und sah auf die verdämmernden Berge; sie erloschen allmählich im Abendschatten.

‚Leben Sie wohl!‘ sagte ich wie ein Echo und ging vorwärts, nachdem ich mich gegen Rainer verbeugt hatte. Er war noch neben mir.

‚Wollen Sie mir eine dieser Blumen schenken, Fräulein?‘ sagte er plötzlich.

Ich gab ihm eine der verspäteten Genzianen, deren tiefes feuriges Blau ich heute zum ersten Mal geschaut hatte.

‚Die blaue Blume!‘ sagte er langsam. ‚Wenn Wünsche sich erfüllen, Fräulein, dann sehe ich Sie wieder.‘“

Frau Therese schwieg.

„Und hat er Dich wieder gesehen?“ fragte Linda mit lebhaft forschendem Blicke.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 576. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_576.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2018)