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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


einem reich verzierten Schiffe; auch Kuni befand sich in demselben; eine schöne Musik ertönte, und das Schiff schwamm heiter und beglückt zwischen reizenden Ufern dahin. Da weckte ihn ein Gefühl plötzlicher Angst: er fuhr auf und wußte im ersten Augenblicke nicht zu erkennen, ob er wach geworden, denn wenn ihn auch die gewohnte Hütte umgab, ein Theil des Traumes schien dennoch Wirklichkeit geworden zu sein.

„Was ist geschehen?“ rief Kuni ebenfalls erwachend, und starrte Sylvest an, der schon an der Hüttenthür stand, um sie zu öffnen.

„Es wird wohl nichts sein,“ sagte er, „im Schlafe ist es mir nur vorgekommen, als wenn der Floß schwimmen thät.“

„Heilige Mutter von Andechs!“ schrie Kuni in plötzlichem ungeheurem Schrecken auf, „es ist ja wahr: der Floß schwimmt.“

Es war nicht daran zu zweifeln: das Holzgebäude schwankte sichtbar von der Bewegung der Wellen, die es von hinnen trugen; nach wenigen Augenblicken kam Sylvest von draußen zurück; trotz des Bartes war erkennbar, daß auch er bleich geworden. „Es ist wahrhaftig so,“ sagte er, „es muß ein Stück vom Gestade eingebrochen sein. Das Wasser hat das Seil und den Pflock und Alles mitgenommen; wir sind schon ein paar Büchsenschuß’ vom Ufer entfernt und schwimmen mitten im Treibeis.“

Ein Schrei aus Kuni’s Munde antwortete der entsetzlichen Nachricht. Sie sank beinahe zusammen, und Sylvest sprang hinzu, sie in den Armen aufzufangen: seine Annäherung gab ihr Kraft und Besinnung wieder, daß sie sich am Herde zu stützen vermochte. „Nimm Dich zusammen, Mädel!“ sagte er, „zu früh verzagt ist auch verspielt; noch sind wir nit ganz und gar verloren. Wenn wir nur ein Ruder hätten, fahret’ ich uns wohl hinaus, und wenn’s noch so arg stürmt, aber die Ruder sind noch nicht hergerichtet. Vielleicht kann ich die Maststange los machen, dann hat’s keine Gefahr. Bleib’ Du nur drinnen!“ rief er im Hinauseilen, da Kuni folgen wollte, „da draußen ist kein Geschäft für Dich.“

Bebend, mit angstverschlungenen Händen folgte ihr Ohr dem Schalle seiner Thätigkeit; sie zählte jeden der Beilhiebe, mit denen er den Segelbaum sich loszumachen mühte, und fühlte mit Grausen, wie jeder Schlag den schwanken Boden unter ihren Füßen erschütterte und wie die Wellen und Schollen immer höher und enger das dröhnende Fahrzeug bedrängten; plötzlich ertönte ein minutenlanges Gerassel und dann ein stärkerer Schlag, als wäre eine starke Last hernieder gestürzt, die das Bretterdach der Hütte streifte, daß es an der Ecke aus den Fugen ging. Ein Windstoß drang herein, mit schrillem Pfiffe aufjauchzend, daß es ihm endlich gelungen war, einen Eingang zu finden. Im nämlichen Augenblicke erschien Sylvest auf der Thürschwelle, an der er sich wie taumelnd anhielt; er war ohne Hut; aus einer Stirnwunde schoß ihm das Blut über Gesicht und Bart. „Heilige Mutter!“ rief Kuni und sprang ihm entgegen. „Was ist Dir geschehen?“

„Es wird nicht viel zu bedeuten haben,“ entgegnete er eintretend, und schloß die Thür, um den Sturm wenigstens von dieser Seite abzuhalten. „Der Segelbaum ist auf die unrechte Seiten gefallen und weit hinaus geschossen in’s Wasser. Wie ich schon gemeint hab’, ich könnt’ ihn ganz still niederlassen, hat es ihn seitwärts geschlenkt. Ich bin nur froh, daß er mich nicht auch mitgerissen hat.“

„Aber Du blutest ja über und über. Du mußt einen Verband haben,“ rief Kuni und riß ihr Tuch vom Halse; mit zitternden Händen legte sie es zusammen, tauchte es in das von unten aufquellende Wasser und band es Sylvest um die Stirn; schweigend verrichtete sie das Geschäft; schweigend neigte er ihr den Kopf entgegen und ließ sie gewähren, dann kehrte Jedes an seinen Platz zurück. Todtenstille war einen Augenblick in dem Gemache, nur der Wind heulte, unten aber rauschte das Wasser und knirschten die Eisschollen, als nagten sie an dem Scheitergefüge, um es auseinander zu reißen.

„Mit dem Ruder ist es also nichts,“ sagte Kuni nach einer Weile schüchtern, „wie wird’s aber jetzt werden mit uns?“

Sylvest sah ernst zu Boden und schwieg; das wachsende Getöse unter ihren Füßen antwortete für ihn. Mit steigendem Entsetzen betrachtete ihn Kuni. „Du sagst nichts,“ rief sie, „also wär’ wirklich keine Hülf’ mehr? Wär’s wirklich, daß wir zu Grund’ geh’n müssen?“

„Es scheint so,“ erwiderte er gelassen, indem er über den Knieen die Hände wie zum Gebete ineinander faltete, „ich glaub’, wir liegen oder sitzen schon in unserer Todtentruhen.“

Ein Schrei Kuni’s antwortete ihm noch greller, noch wilder, noch entsetzenvoller als zuvor. Sie hatte vor wenigen Tagen dem Tode in das ernste Angesicht geschaut und war davor zurückgebebt wie vor dem Hingange in eine geheimnißvolle Ewigkeit, über deren abgründlich klaffenden Eingang nichts hinwegträgt als die Brücke des Glaubens, und jetzt hatte sich das düstere Antlitz gegen sie selbst gewendet; wie das Haupt eines Ungeheuers tauchte es plötzlich aus den Wogen vor ihr auf und winkte sie zu sich, mitten aus der vollen Kraft und Schönheit des kaum entfalteten Lebens, unvorbereitet und mitten aus den flüchtigen Gedanken und Empfindungen desselben. Ein unsäglicher Schauder erfaßte sie, daß sie in die Kniee sank und sich an den Herd wie an einen Altar anklammerte. Ein Guß von Thränen brach aus den weitgeöffneten Augen, und eine an Verzweiflung grenzende Angst schlug ihr die Zähne zusammen. Sie stammelte verwirrte Worte durcheinander, halb Anfänge von Gebeten, halb Klagelaute, abgerissen und unverständlich, aber eben deshalb desto ergreifender. Mit einem Blicke voll Mitleid betrachtete sie der Bursche eine Weile:

„Entsetz’ Dich nit gar so, Kuni!“ sagte er dann, „damit machen wir’s nit besser. Es soll kein harter Tod sein, das Ertrinken. Geben wir uns d’rein und denken, einmal muß es doch gestorben sein.“

„Ja, fürchtest Du Dich denn nicht?“ rief sie und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

„Fürchten?“ sagte er. „Ich kann nicht Nein sagen, daß ich nicht gern noch eine Weil’ hätt’ leben mögen, und ein anderer Tod wär’ mir auch nicht zuwider gewesen. Ich hätt’s auch ganz gern gehabt, wenn meinem alten Vater und meiner Mutter und meinem Bruder ein solches Leidwesen erspart worden wär’. Aber vor dem Sterben mich fürchten? Nein, das thu’ ich nicht.“

„Mein Vater, mein armes Vaterl!“ wimmerte Kuni dazwischen; jetzt erst war vor ihrer Seele das ganze Bild des Jammers aufgetaucht, der über den Alten hereinbrach, wenn er sie verlor, wenn er sie so früh und auf so furchtbare Art verlor. „Er überlebt’s nit, dazu hat er mich viel zu gern gehabt.“

Als ob er sie dadurch auf andere Gedanken bringen wollte, fuhr Sylvest fort: „Ich bin nicht umsonst in Griechenland gewesen und im Krieg. Hat’s auch keine großen Schlachten gegeben, wenn wir so in der Maina in die Schluchten hineingeritten sind, ist man doch keinen Augenblick sicher gewesen, daß einem nicht eine heimtückische Klephtenkugel das Licht ausbläst. Da lernt man’s wohl, seinen Mantelsack gepackt zu halten, und wenn der Trompeter zum Einhauen bläst, da schaut man noch einmal in den blauen Himmel hinaus, macht Reu’ und Leid und reitet in Gottes Namen in die Kugeln hinein.“

„Reu’ und Leid,“ flüsterte Kuni wie von einem beruhigenden Gedanken erfaßt und stützte die Arme mit den gefalteten Händen auf den Block vor dem Herde; heiße, inbrünstige Worte flossen leise von den bebenden Lippen. Die Gestalten und Begebenheiten ihres Lebens schwebten wie ein fliehender Wolkenzug an ihrer Erinnerung vorüber; mit der Erregung wurde auch die Stimme lauter, und vernehmlich klang es von ihren Lippen: „Vergieb uns uns’re Schulden!“

„Wie auch wir vergeben uns’ren Schuldigern,“ fuhr Sylvest fort und schloß. „Und erlöse uns von dem Uebel – Amen!“

„Vergieb’ mir Du auch, Sylvest! Ich bin auch Deine Schuldigerin,“ sagte Kuni leise. „Ich bin daran schuld, daß Du hast flüchtig geh’n müssen und mußt jetzt so elend zu Grund’ geh’n.“

„Verzeih’ mir Du auch!“ erwiderte Sylvest, „ich hab’ Dir öffentlich Unrecht angethan. Ich denk’, wir können uns’re Rechnung gleich aufgeh’n lassen gegeneinander.“

Heftiges Krachen erscholl; eine gewaltige Scholle hatte unterwärts einen Theil des Scheiterflosses aus der Schichtung gerissen: die Hölzer wichen auseinander, mit ihnen die Grundlage, auf der die Hütte ruhte. Das schon beschädigte Dach begann sich zu neigen, und durch nichts mehr gehemmt, quoll das brausende Wasser wie aus einem geöffneten Brunnen empor. Es war die Seite, an welcher sich Kuni befand.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 568. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_568.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)