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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Rathlos, bereits empfindlich durchnäßt, starrte Kuni in die Finsterniß hinaus; sie glaubte eine weite grauweiße Fläche zu erkennen, die nichts anderes sein konnte, als der Ammersee; tiefschwarz lag der Hügelabhang da und am Fuße desselben ein nicht minder dunkler Streifen, der an’s Ufer führen konnte. Sie hatte Ziel und Richtung vollständig verloren.

Da blitzte es in nicht großer Entfernung auf; ein Licht wurde sichtbar und blieb ruhig an derselben Stelle haften. Das war der Schein aus einem beleuchteten Fenster; dort mußte eine menschliche Wohnung sein. Der Ort war nicht zu entfernt, als daß man ihn trotz des Dunkels und der Pfadlosigkeit nicht hätte erreichen können.

Aber die Nacht ist das Reich der Täuschungen und keines Menschen Freund. Mühsam, oft ausgleitend auf nassem Boden oder glattem Gesteine, gelangte Kuni den Abhang hinunter; die Hände waren ihr wundgerissen von den Aesten und Dornranken, an denen sie sich halten mußte, um sich vor dem Sturze zu sichern, und der schmelzende Schnee troff ihr von Stirn und Haar; dennoch waren die Mühseligkeiten, die ihrer harrten, noch größer als die überstandenen. Beim ersten Schritt auf den Boden vor ihr erkannte sie, daß sie auf Moorland getreten war, das, nur leicht überfroren und nur hier und da mit Grasbüscheln oder kümmerlichen Legföhren bestanden, jeden Augenblick unter ihr einzubrechen drohte. Ein Gefühl des Schreckens und zugleich so vollständiger Ermüdung überfiel sie, daß sie mit jedem Schritte in die Kniee zusammenbrechen zu müssen fürchtete.

Aber vor ihr brannte und lockte, nicht weichend, der Lichtschein.

Endlich war der Rand des Moores erreicht. Sie erkannte einen Streifen festen Landes unter ihrem Fuße, an dessen anderer Seite windbewegte Wellen anschlugen und die schwimmenden Schollen der geborstenen Eisdecke unheimlich rauschten.

Sie stand am Ufer des Sees. Eine hier und da mit Schnee bedeckte unkenntliche Masse lag dort im Wasser oder vielmehr im Ufereis; nur seitwärts ließen sich daran übereinander geschichtete Stöße von Holzscheitern unterscheiden. Es war eine sogenannte Scheere, eine eigenthümliche Einrichtung, wie sie kaum an einem andern Bergsee Oberbaierns in gleichem Umfange gebräuchlich ist. In den Bergen wird das Jahr über vieles Holz gefällt und in große Scheiter gespalten, die dann in die Ammer geworfen und von dieser, wenn auch mit unwilligem Gebrause, doch sicher in den See getragen werden. Damit sie sich in diesem nicht zerstreuen, werden sie übereinander geschichtet und in ein Balkengerüst eingefangen, das Scheere genannt wird. Tausende von Klaftern bilden dadurch eine Art von schwimmendem Holzfloß, der sich oft tief in den See versenkt. Kommt dann die offene Jahreszeit, so wird auf dem Flosse ein Mastbaum aufgerichtet, und wenn es gelungen ist, den Stoß festzufügen und ein günstiger Wind in’s Segel bläst, schwimmt der Holzriese an einem einzigen Tage bis zum andern Ende des Sees. Dort wird er zerlegt und die Scheiter wieder der Amper übergeben, um sie in die Münchener Holzgärten zu vertriften. Zur Sicherung der Scheere gegen die Elemente wie gegen etwaige Holzfreunde war den Winter über ein Wächter dahin gesetzt worden und hatte sich auf dem schwimmenden Koloß, den ein starkes Bastseil am Ufer hielt, aus Brettern eine leichte Hütte gebaut.

Aus ihrem Fensterchen schimmerte das Licht, das Kuni zum Leitsterne geworden war. Mit den letzten Kräften schleppte sie sich auf den von dem Lichte beschienenen Zugang des Scheerflosses und klopfte an die Hüttenthür; der Bewohner schien zu schlafen. Es währte eine Weile, bis Antwort erfolgte.

„Was giebt’s?“ rief er dann. „Wer ist da?“

„Eins, das sich vergangen hat,“ antwortete Kuni, „und in dem Wetter nicht mehr weiter kann.“ Sie brachte die Worte nur mühsam hervor, weil ein Schauder sie schüttelte, vor Frost und vor dem Klange der Stimme, die ihr wie nicht fremd an’s Ohr schlug. Der Mann in der Hütte zog den Holzriegel zurück und öffnete die Thür, die sich nach innen aufthat und dadurch ihn selbst, sowie einen großen Theil des kleinen Raumes deckte. Auf einigen aufgeschichteten Steinen verglimmten die letzte Reste eines Herdfeuers; ein schlechtes Oellämchen, das der Floßwächter in der Hand empor hob, gab eben genügend Licht, um die verschwommenen Umrisse der Hütte, sowie des Wirths und seines Gastes erkennen zu lassen.

Kuni war wie versteinert. Sie brachte keinen Laut hervor. Die Gewalt der Ueberaschung benahm ihr Ton und Wort; denn sie erkannte den Wächter augenblicklich, obwohl er, um sich zu verunstalten, das Haar geschoren und das Gesicht durch einen ganzen Wald von Bart hatte verwildern lassen – es war Sylvest, der vor ihr stand.

Auch er war betroffen und fand erst nach einigen Augenblicken ein Wort der Begrüßung oder Anrede.

„Grüß’ Gott!“ sagte er, „mußt Dich in dieser dunkeln Nacht arg vergangen haben, daß Du daher zu mir kommst. Wie ist denn das möglich?“

In abgebrochenen Worten berichtete Kuni, was ihr widerfahren war, während sie auf einen Holzstock niederglitt, der am Herde statt des Stuhles dienen mußte. Sylvest sah sie wie staunend an. „Da bist Du noch gut weggekommen,“ sagte er, „auf dem Weg’, den Du gemacht hast, kann Eins am hellen Tage und bei gutem Wetter zehnmal den Tod haben. Es ist schier, als wenn es so sein müßt’,“ setzte er mit bitt’rem Lachen hinzu, „daß wir uns überall in den Weg kommen …“

„Ich will nit lange bleiben,“ sagte sie gepreßt, aber sich der Einwirkung der Feuers mit sichtbarem Behagen hingebend, „ich will mich nur ein wenig ausrasten und wärmen, dann zeigst Du mir wohl den Weg, daß ich nach Sanct Alban hinüber komm’.“

„Das thu’ ich nicht,“ entgegnete er schroff, „Du thätst Dich zum zweiten Male und noch ärger vergehen, und das Wetter bricht auch immer wilder los. Wenn Du aber durchaus die paar Stunden nit mit mir unter ein’ Dach sein willst, so laß ich Dir das Nest allein, aber erst nimm da ein Glasel Kirschgeist, daß Dir die Verkältung nit schadet! Da ist auch noch ein Stück Brod, wenn Du Hunger hast; ich will noch ein Bissel Holz nachlegen, und dann will ich fortgehen und Dir die Hütten lassen für heut’ Nacht; mir macht der Wind und der Regen nichts; ich bin schon wetterhart.“

„Nein, Du darfst nicht hinaus,“ rief Kuni entschieden, „ich will Dich nicht von Deiner Hütten vertreiben; eigentlich bin ich ja doch daran schuld, daß Du flüchtig geworden bist und Dich so elend verbergen mußt.“

„Das Elend wird nicht ewig dauern,“ entgegnete Sylvest, indem er Kuni die erwähnten Erfrischungen reichte und das Feuer anschürte, „aber die Schuld liegt eigentlich doch nicht bei Dir. Was kannst Du dafür, daß ich Dir so zuwider bin, daß Du, sobald Du nur mich oder das Ulanenkollak siehst, aufschreien mußt, wie eine Andere, wenn sie etwa eine Kreuzspinn’ sieht? Was liegt auch daran? Jetzt sind wir einmal bei einander die Nacht, und wann’s die Leut’ auch erfahren thäten, es gäb’ doch kein Gered’ wegen uns Zweien. Die Leut’ wissen ja, wie’s beschaffen ist mit uns. Wenn es einmal Spieß’ und Hackel regnet, kriechen wohl Hund und Katz’ auch miteinander in Einer Hütten unter. Brauchst Dich aber nit zu sorgen, Mädel! Es erfährt Niemand was davon, es müßte nur sein, daß Du morgen hingingst und erzähltest, wer sich auf dem Scheerfloß eingehäuselt hat.“

Kuni drängte es, ihm auf seine höhnenden und aufreizenden Reden nach Gebühr zu erwidern, aber sie sah ein, daß ihr in vernünftiger Weise nichts Anderes übrig blieb, als in der Hütte zu übernachten. Sie zwang sich zu schweigen und lehnte sich wie schlaftrunken mit dem Kopfe an die Wand zurück; sie war es wohl auch. Die furchtbare und ungewohnte Anstrengung, die ausgestandene Angst und nun die sie umgebende behagliche Wärme, wie die genossene Nahrung, zogen ihr die Augenlider gleich Vorhängen zu, welche die Aussicht zurück wie vorwärts verhüllten.

Als Sylvest ihren Zustand gewahrte, zog er sich in die andere Ecke zurück, wo ein Haufen Streu und Stroh ein sehr ungastliches Lager bildete. Er kauerte darauf zusammen, und den Blick auf das schlafende Mädchen gerichtet, versank er bald in allerlei Betrachtungen über ein so außerordentliches Zusammentreffen, bis auch ihn der Schlaf überwältigte und die Seele hinaussteuern ließ in’s hohe Meer der Träume.

Bald war es todtenstill in der Hütte, nur mitunter rüttelte ein zorniger Windstoß an dem knarrenden Gebäude. Vom Flußbette der Ammer brauste die hochgehende Fluth, und manchmal rauschten die Eisschollen aneinander, die im See wie riesige Spielbälle des Sturmes durcheinander trieben.

Plötzlich fuhr Sylvest mit einem leichten Schrei aus dem Schlafe auf; es war ihm im Traume gewesen, als sitze er in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 567. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_567.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)