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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


„Hier saß ich,“ fuhr er nach einer Pause fort, „einige Jahre, ohne den Gedanken meiner Befreiung, den ich schon im Momente des Eintritts gefaßt hatte, eine Minute aufgegeben zu haben. Durch den Umstand, daß mir in keinerlei Weise irgend ein sinnloses Wort oder irgend eine unverantwortliche Thätlichkeit nachgewiesen werden konnte, bekam ich innerhalb der Grenzen der Anstalt vollkommene persönliche Freiheit. Bald lernte man meine chirurgischen Fähigkeiten kennen, und ich durfte bei Gelegenheit vorkommender Operationen anfangs assistiren, später solche im Auftrage und Beisein des Directors und der



Die drei Echsen in den Vogesen.
„Zeichnung von R. Püttner. Aus der Kröner’schen „Rheinfahrt“.


Assistenten eigenhändig ausführen. Die Gelegenheit, ärztlich thätig zu sein, brachte mich im Laufe der Jahre häufig in die Anstaltsapotheke. Daselbst war es mir möglich, allmählich unbemerkt kleine Quantitäten Morphium zu erhalten, die ich in meinem Zimmer sorgfältig verwahrte und nach und nach zu nicht unbedeutenden Quantitäten anwachsen ließ. Ich gewöhnte mich nun, weil ich leider mein geliebtes Chloroform nicht zu erlangen vermochte, an Morphiumgenuß und brachte es mit der Zeit dahin, daß ich ziemlich ansehnliche Dosen, welche andere Personen gewiß in tiefen Schlaf versetzt hätten, ohne jeglichen Einfluß auf meinen Organismus und ohne alle Betäubung zu mir nehmen konnte. Heute vor drei Wochen war mein Geburtstag. Ich lud den Oberwärter, unter dem Vorgeben, mein Wiegenfest mit ihm zu feiern, zu einer Flasche Bordeaux auf mein Zimmer ein. Es war dies nichts Auffälliges, da mir öfters vom Hause Wein geschickt wurde und man es mir überhaupt weder an guter Verpflegung noch an Geld fehlen ließ. In die Flasche, aus welcher ich meinem Gaste und mir das Glas füllte, hatte ich vorher etwas ziemlich concentrirte Morphiumlösung gethan. Wir stießen an, und in einem Zuge waren die Gläser geleert. Mein Freund Wärter fand den Wein etwas stark und bitter, allein ich versicherte ihm, daß das die Eigenschaft des echten Bordeaux sei und ein zweites Glas ihm gewiß besser schmecken würde. Wir leerten allmählich die Flasche, und taumelnd sank mein Kumpan in einen tiefen, festen Schlaf. Es war Nachmittags vier Uhr; ich bemächtigte mich seiner Schlüssel und entfloh aus meinem dreijährigen Gefängnisse – es sind jetzt drei Wochen – und hier bin ich.“

Die ganze Erzählung meines Universitätsfreundes war in einer solchen Klarheit und Schärfe der Beurtheilung wiedergegeben, daß ich an seinem angeblichen Irrsinn selbst zu zweifeln begann. Ich fragte ihn, was ihn denn eigentlich zu mir und in unsere Gegend führe, und er theilte mir bei dieser Gelegenheit mit, daß er im Jahre 1870 bei Orleans ein kleines Feldlazareth als freiwilliger Arzt mit Anerkennung dirigirt habe und jetzt sich auf dem Wege nach Berlin befinde, um

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 560. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_560.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)