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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


jenen Vorlesungen die fernere Beibehaltung der Todesstrafe bekämpfte, sondern auch an die Spitze der praktischen Bewegung gegen dieselbe trat. Als es sich um die Beschlußfassung des Norddeutschen Reichstages über das neue deutsche Strafgesetzbuch handelte, da reichte er eine von den namhaftesten Juristen und Schriftstellern unterzeichnete Adresse gegen die Todesstrafe ein.

Der Norddeutsche Reichstag sprach sich damals bekanntlich in seinem ersten Beschlusse für die Beseitigung der Todesstrafe aus. Allein da trat Graf Bismarck für die gegentheilige Rechtsanschauung nicht nur mit seinem persönlichen Riesengewichte ein, sondern erklärte, es würde durch Abschaffung der Todesstrafe das Zustandekommen des Norddeutschen Reichsstrafgesetzbuchs gefährdet sein. Die Todesstrafe wurde daher vom Norddeutschen Reichstage, um des Zustandekommens des Strafgesetzbuchs willen, in einem zweiten Beschlusse unter die Strafmittel wirklich aufgenommen, jedoch auf eine überaus kleine Zahl von Fällen beschränkt. Allein Holtzendorff ist noch nicht ermüdet, wie das denn überhaupt seine Sache nicht ist; er hat sein Agitationsfeld im Gegentheile nur noch erweitert. Abgesehen davon, daß er nun auch in einem süddeutschen Hörsaale durch sein zündendes Wort wirkt, hat er jetzt eine Schrift – die einläßlichste seit der Schrift Mittermaier’s – nach allen Richtungen der Windrose in die civilisirte Welt hinausgehen lassen und durch sie zugleich einen neuen Appell an die Humanität erlassen. Mittlerweile hatte sich beinahe überall, selbst in England und Nordamerika, die Todesstrafe in einen letzten Winkel zurückgezogen, indem sie im Ganzen und Großen nur noch für die Fälle des Mordes beibehalten erscheint. In diesen Winkel ist er ihr nachgefolgt und hat seine neue Schrift daher gefaßt: „Das Verbrechen des Mordes und die Todesstrafe“. Gewidmet hat er sie „den parlamentarischen Vorkämpfern gegen die Todesstrafe, Eduard Lasker in Berlin und P. St. Mancini in Rom“. Wir können den Inhalt des Werkes hier auch nicht einmal skizziren. Erlauben möchten wir uns aber aus mehr als einem Grunde, die Schlußstelle wörtlich wieder zu geben. Sie lautet:

„Deutschlands Kaiser, König Wilhelm, schon im Beginne der preußischen Regentschaft zur Milde geneigt, hat seit dem Jahre 1870 kein Todesurtheil mehr bestätigt: eine Thatsache, deren Grund sich sowohl der Erläuterung wie auch den Vermuthungen gegenwärtig noch entzieht. Aber es muß darauf hingewiesen werden, daß der Monarch, der die blutigsten Schlachten der neueren Zeit siegreich schlug und in den Kriegslazarethen das Leben der edelsten Männer gleichsam selbst blutenden Herzens massenhaft untergehen sah, den Werth des menschlichen Lebens nicht geringer, sondern im Gegentheil nur um so höher veranschlagt. Wenn die Schrecken der letzten deutschen Kriege außer den unvergänglichen Lorbeeren, die unsere Krieger einsammelten, und außer der kostbarsten Frucht deutscher Einheit, auch noch Einiges dazu beigetragen haben, die Herzen der Menschen mit göttlicher Milde zu erfüllen und der endlichen Abschaffung der Todesstrafe vorzuarbeiten, so werden spätere Geschlechter auch aus diesem Grunde mehr und mehr erkennen, daß Deutschlands Kampf zu den heiligen Befreiungskriegen der Menschheit gezählt werden muß.“ –

In noch ausgedehnterem Maße und mit schneller erreichtem Erfolge als gegen die Todesstrafe hat Holtzendorff gegen die in Deutschland bestandenen ausschließlichen Gefängnißsysteme, nämlich einerseits das der Gemeinschaftshaft, andererseits das der strengen Zellenhaft, gekämpft, wie es denn überhaupt ein Grundzug Holtzendorff’s ist, sich nicht ausschließlichen Systemen und aprioristischen Theorien gefangen zu geben. Man hatte sich aber in Deutschland, da man die Gemeinschaftshaft als unzulänglich befunden hatte, nun der Zellenhaft in die Arme geworfen. Allein der bei längerer Haftdauer auf die Gesundheit der Sträflinge geäußerte ungünstige Einfluß ließ diese Haftart unter Umständen grausam erscheinen. Die Humanität verlangte vielmehr eine verständige Vereinigung beider Strafarten und die Verbesserung einer jeden, der Gemeinschaftshaft durch größere Strenge, der Zellenhaft durch Milderungen. Mittlerweile war nun aber in Irland ein neues System aufgetaucht. Nach demselben ist es dem Sträflinge selbst in die Hand gegeben, durch gutes Betragen seine Strafzeit abzukürzen. Dieses „Irische System“ (auch Progressiv-, bedingtes Freilassungssystem genannt) hatte bereits die günstigsten Erfolge aufzuweisen. Holtzendorff ergriff daher den neuen Humanitätsgedanken mit gewohnter Lebhaftigkeit und Ausdauer und machte behufs genauesten Studiums eigens eine Reise nach Irland. Seine 1858 und 1861 herausgegebenen Schriften wurden nicht nur in die hauptsächlichsten europäischen Sprachen übersetzt, sondern hatten so durchschlagenden Erfolg, daß man sie geradezu als epochemachend in der europäischen Gefängnißliteratur erachten kann. Sachsen war der erste deutsche Staat, in welchem durch den König Johann die Reform zuerst eingeführt wurde (1863, wenn wir nicht irren), worauf sie ihren Weg auch in das Norddeutsche und Deutsche Strafgesetzbuch gefunden hat.

Wir haben oben des Fürsten Bismarck gedacht. Wie sich Holtzendorff wohl von Niemand in der Liebe zum großen deutschen Vaterland übertreffen läßt, so wüßten wir auch nicht, wer mit größerer Begeisterung und mit tieferem Dankgefühle dem großen Staatsmanne – neben Stein dem größten, welchen der deutsche Boden je hervorgebracht, – zugethan wäre. Noch ehe unserm Bismarck der letzte große Schritt zur Vollendung der deutschen Einheit gelungen war, hat er ihm, wenn er auch keinen Namen nannte, ein redendes Denkmal in seinen „Principien der Politik“ 1869 gesetzt. Wer hätte schon damals nicht an den Namen Bismarck gedacht, wenn er Stellen las, wie die folgende, die Thätigkeit und die Schwierigkeiten jedes großen Staatsmannes schildernde:

„Er hat den Hafen hinter sich, den Hafen vor sich. Die Stärke und Richtung des Windes, die Strömungen des Meeres schreiben ihm die Stellung der Segel vor, und jede Stunde kann hier eine Veränderung fordern. Wer auf einer Seekarte die Curven betrachtet, welche berühmte Weltumsegler auf den Wassern des Oceans, in ihrer nach Punkten markirten Tagereise zahlreiche Windungen und Zickzackbewegungen durchlaufend, zurücklegen mußten, findet ein Gleichniß für die Bewegungen, welche zur Erreichung entfernter politischer Ziele innegehalten werden müssen.“

Am Schlusse des Buches aber sagte damals (1869) von Holtzendorff:

„An sich kann von der politischen Theorie weder eine conservative, noch eine liberale, noch eine radicale Politik jemals völlig verworfen werden. Die Politik des Freiherrn von Stein war in verschiedenen Perioden verschieden gestaltet: radical, reformatorisch und conservativ. Das Gleiche gilt vom Grafen Cavour und – von dem Staatsmanne, der durch eine nach außen radicale Politik dem deutschen Bundestage ein Ende machte.“

Das Wagniß Holtzendorff’s, die Vertheidigung des Grafen Arnim zu übernehmen, ist vielfach mißdeutet worden. Er sagt in einem Vorworte zu seiner in Berlin herausgegebenen Vertheidigungsrede etwa: „Ich kenne keine ‚Interessen‘, wie sie selbst meine Freunde als gefährdet erachteten, denn ich diene nicht auf Avancement. Wären aber solche wirklich vorhanden, so würde ich sie meiner Ueberzeugung getrost zum Opfer bringen. Wenn es sich darum handelt, eine falsche Anwendung des Strafgesetzes abzuwehren, und außerdem, wenn meine Vertheidigung ein Geringes dazu beigetragen hat, den zweifelhaften Sinn des Strafgesetzes klarer zu stellen, so würde ich glauben, daß der Dienst, den ich dem Grafen Arnim geleistet habe, geringer wäre als derjenige, den ich – Deutschland erwiesen.“

Die vollste Charakterunabhängigkeit, das Freisein von allen „Rücksichten“ in gewissem Sinne hat übrigens Holtzendorff nicht erst heute bewährt. Nachdem er, so lange der Pietismus in voller Blüthe stand, 1861 den Kampf mit dem Rauhen Hause aufgenommen hatte, half er 1865 den Protestanten-Verein mitbegründen; er ist es auch, welcher durch die neueste Herausgabe der von ihm angeregten Protestanten-Bibel neben Dr. Paul Schmid eine der durchschlagendsten „Thaten“ des Vereins zu Tage gefördert hat. – Unerschütterlich liberal hat er gleichwohl zu keiner Fahne ausschließlich geschworen. Soeben hält er an der Münchener Universität wieder eine öffentliche Vorlesung, als deren Thema er sich diesmal nicht einen strafrechtlichen Gegenstand, sondern einen dem Staatsrecht und der Politik angehörenden gewählt hat. (Holtzendorff ist an die Universität München als Lehrer des Straf-, Staats- und Völkerrechts berufen.) Es ist dies eine wissenschaftliche politische Betrachtung der politischen Parteien, und er scheut sich hierbei in keiner Weise, jeder der verschiedenen Parteien die Wahrheit zu sagen. – Einige bezeichnende

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 538. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_538.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)