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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


und in seinem Gemüthe wieder Raum für andere Bilder geschaffen. Einmal gerieth dabei die Baßgeige in wirkliche Gefahr, denn als er bei den ersten kleinen Häuschen des Marktfleckens angekommen war und eine weibliche Gestalt in eines derselben ging, fuhr er aus seinem Brüten auf, daß er stolperte und nahezu gefallen wäre – war es ihm doch gewesen, als ob die Gestalt, wenn er sie auch nur von rückwärts sah, dem Mädchen glich, das ihn zwischen Erling und Andechs über den Zaun gegrüßt hatte. Eben besann er sich noch recht, daß ja die Gestalt helles Haar habe, während die Zöpfe des Mädchens vom allerschwärzesten Schwarz gewesen – war das Bild auch in seiner Erinnerung wieder verblichen und verdrängt, war der Eindruck dennoch tief genug gewesen, um immer wieder zum Vorscheine zu kommen, besonders wenn der Tag und die Geschäfte des Tages vorüber waren. Es ging damit, wie wenn in irgend einem alten Gebäude der Bewurf sich von der Wand abbröckelt und ein altes Gemälde sichtbar werden läßt, von dem kein Mensch mehr etwas gewußt oder an das doch seit vielen, vielen Jahren kein Mensch mehr gedacht.

Im Markte wurde der Alte und seine Baßgeige bereits erwartet; wußte er sie doch ungemein lustig zu handhaben und ihr so lächerlich brummende Töne zu entlocken, daß diese Musik mit zu den Hauptspäßen der Faschingslustbarkeit gehörte. Eine Schaar muntere Bursche verkleidete sich dabei in allerlei Masken, wie die Einbildungskraft des Landvolkes sie erfindet und als altes Herkommen werth hält. Da war ein buntscheckiger Hanswurst, der sich mit Ruß einen wilden Bart gemalt hatte und die Mädchen mit den Küssen, die er drohte, vor sich herscheuchte; der bairische Hiesel mit seinem großen Hunde und dem nie fehlenden Stutzen kam als grimmiger Wildschütz heranstolzirt. Wilde Männer schritten durch die Menge, in umgekehrte Wildschuren gehüllt und mit mächtigen Bärten aus Hanfwerg am Kinn und Tannenreisig um die Köpfe. Keinem fehlte der Zweig der wintergrünen Sangen oder Stechpalmen, denn das ist eine geheimnißvolle Pflanze, welche gar wunderbare Kraft in sich haben soll. Auf einem Klepper, der durch künstliche Höcker zu einem Dromedar umgestaltet war, saß zwischen den Buckeln der eigentliche Faschingsnarr, ein Vermummter, der, wenn der Zug vor den Häusern anhielt, eine Art gereimter Strafpredigt ablas und Spottverse über die Thorheiten sang, die man sich von den Bewohnern erzählte, ähnlich, wie es in anderen Gauen beim Haberfeldtreiben zu geschehen pflegt. Die Hauptpersonen des eigentlichen Spiels aber waren zwei Knaben, welche, als Winter und Sommer verkleidet, den Kampf der beiden Jahreszeiten, der nun bald wieder beginnen sollte, singend erst mit Worten, dann mit den Fäusten darstellten. Natürlich mußte der Winter spielgemäß zuletzt unterliegen, aber aus der größern oder geringern Leichtigkeit, mit welcher der Sommer ihn bezwang, wurden allerlei Anzeichen entnommen, ob in der Wirklichkeit dieser Kampf sich bald entscheiden oder in die Länge ziehen werde. Reiter beschlossen wieder den Faschingsritt, an dessen Spitze die Musikanten um die Wette bliesen, pfiffen und trompeteten.

Eben war das Spiel wieder beendet; der Sommer in weißem Hemde und einem Kranze gemachter Blumen im Haare hatte eben dem plumpvermummten Winter ein Bein gestellt und ihn mit Pelzmütze und dem Tannenbäumchen, das er trug, zu Falle gebracht, als der herumspürende Hanswurst den Zachariesel unter den Zuschauern gewahrte und ihn, ehe dieser sich seiner erwehren konnte, gepackt und in den Kreis geschleppt hatte.

„Der gehört auch zu uns,“ rief er mit gellender Stimme. „Der ewige Hochzeiter hat uns noch gefehlt; der ist auch ein Faschingsnarr.“

Schallendes Gelächter begleitete den Einfall, aber Zachariesel wehrte sich wie ein Rasender und warf mit einem wilden Faustschlage den Hanswurst bei Seite, dem darüber das Blut aus Mund und Nase schoß und in den beschmierten Bart rann; ein Paar nicht minder kräftige Stöße bahnten ihm den Weg durch die höchlich ergötzte Zuschauermenge, und ehe man sich recht besann und daran dachte, ihn festzuhalten, hatte er schon eine Nebengasse erreicht und rannte die Straße dahin. Er dachte nicht mehr an den Hochzeitlader und seinen versprochenen Rath; jetzt bedurfte er desselben nicht mehr. Die allgemeine öffentliche Verhöhnung hatte dem Fasse den Boden ausgeschlagen. Jetzt half ihm das siedende Blut, schnell zur Fassung und zum Entschlusse zu kommen. Alle sollten sie beschämt und gründlich überwiesen werden, wie sehr sie ihm Unrecht gethan; nun galt es, die Sache zum Biegen oder Brechen zu bringen. Doch nein, brechen sollte sie nicht. Das hätte ihm erst recht als Beweis seiner Schwäche ausgelegt werden können; gerade darin sollte seine vollste Rechtfertigung und sein Triumph bestehen, daß er seinen Willen nicht brechen ließ, sondern daß Alles sich vor ihm beugte und daß er vollständig durchsetzte und erreichte, was er sich einmal vorgenommen. Dann, wenn er Mechel in den nächsten Wochen zum Altare führte und in der Grubenmühle als Herr und Vogt seinen Einzug hielt, dann sollte alle Welt erkennen, was er für ein Mann war.

Lange noch, als er sich schon überzeugt hatte, daß die Faschingnarren eine Verfolgung gar nicht beabsichtigten oder wieder aufgegeben hatten, rannte er stürmisch dahin, als ob die gefrorene Straße ihm unter den Füßen brennte, und hörte darüber kaum, daß ihm ein Schlitten nachgefahren kam, dessen Inhaber, als er bei ihm angekommen, seine Pferde anhielt. Es war ein Bekannter aus der Umgegend, der ihn einlud, mit ihm ein Stück Weges zu fahren. Mit den frischen Pferden ging die Fahrt schnell von Statten, und als Zachariesel an der Wegscheide mit flüchtigem Gruß und kurzem Dank abgestiegen war, trieb es ihn auf seinem Waldwege durch die kahlen Büsche und das Stangengehölz dahin, wie ein Boot, das der Wind in den Segeln gefaßt hat und unaufhaltsam dem Gestade oder einem Riff oder einer Sandbank entgegen treibt. Bald war die schmale Schlucht erreicht, an deren Eingang die Mühle, um ihren Namen zu rechtfertigen, wie in einer Grube stand, halb überwölbt von einem Haine uralter Buchen, deren Laubdach im Sommer kaum einen Sonnenstrahl auf den brausenden Bach hernieder dringen ließ, der unter Gebüsch und überhangendem Gesteine so eilfertig hervorschoß, als könne er es nicht erwarten, die Mühlschußrinne zu erreichen und im Sturze seine Kraft an den Schaufeln der Räder zu versuchen. Jetzt sah es allerdings winterlich kahl und einsam unter den Buchen und vor der Mühle aus, aber das Haus mit den blanken Fenstern, dem rauchenden Schornstein und dem Geklapper des Mühlgangs bot ein so gastliches und einladendes Bild, daß man sich wohl versucht sah, anzuklopfen und Einlaß zu fordern in der friedlichen Einsamkeit, wenn auch von der Dachrinne und dem Mühlschusse mächtige Eiszapfen herabhingen, wie die Bärte von griesgrämigen Greisen oder wie gefrorene Thränengüsse.

Jetzt hatte Zachariesel die Stelle erreicht, von wo er die Mühle und die ganze Umgebung überblicken konnte, und hielt seinen Schritt verwundert an. Nichts regte sich ringsum, und auch an dem Fenster, an welchem sonst Mechel hinter einem großen Wachsblumenstock bei der Arbeit saß und ihn zu begrüßen pflegte, blieb Alles stumm und regungslos. Er eilte die Stufen zur Hausthür hinan – sie war verschlossen; er stürmte wieder hinab und in die Mühle hinein – ein verschlafener Mühlknapp erhob sich von der Bank und sah ihn verwundert an. „Wißt Ihr denn das nicht?“ erwiderte derselbe auf die hastige Frage, „wo Mechtilde und der Grubenmüller sich befinden. Das ist aber spaßig. Ich hab’ gemeint, die Jungfer hätt’ Euch Botschaft davon gethan. Letzthin – Ihr seid fortgewesen – da ist ein Brief aus der Stadt gekommen, und da sind sie fortgereist …“

„Nach Weilheim?“ rief Zachariesel grimmig.

„Warum nit gar!“ lachte der Knappe, „was sollten sie denn da thun? Das wär’ ja ein Weilheimerstückl; der Brief ist aus der Münchenerstadt gewesen, und dahin sind sie auch gereist – heute in aller Früh.“

Zachariesel war es, als ob das ganze Mühlwehr abgelassen sei und ihm vor den Ohren brause. „Aber warum denn?“ stieß er mühsam hervor. „Was thun sie denn jetzt mitten im Winter in München?“

„Ja, das weiß ich nicht,“ entgegnete der Knappe, indem er dem einen Mahlgang, der zu läuten begonnen hatte, Frucht aufschüttete und darüber hinweg den bestürzten Frager mit verwunderten Blicken und spöttisch zuckenden Mundwinkeln betrachtete. „Der Herr hat nur gesagt, in ein paar Tagen kommen sie schon wieder, aber drinnen in der Stuben auf dem Fensterbrett liegt noch der Brief, der aus der Stadt gekommen ist – da wird wohl Alles drinnen steh’n …“

Und in dem Briefe stand auch, wenn nicht Alles, so doch genug und weit mehr, als Zachariesel zu wissen verlangt und erwartet hatte.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 536. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_536.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)