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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


nur halb eine Lustbarkeit, zur anderen Hälfte ein gottgefälliges Werk sei.

Der Tanz, der jetzt wohl nur noch vereinzelt bei Hochzeiten vorkommt, hieß der Loostanz, und bestand darin, daß die tanzenden Paare sich nicht nach Gefallen und Neigung aus freier Wahl zusammenfanden, sondern durch das Loos bestimmt wurden. Die Namen aller tanzlustigen Bursche wurden in einem Hute gesammelt, in einem anderen die der Mädchen; der Herr des Hauses oder sonst eine Vertrauensperson zog den Namen eines Mädchens heraus, das sich dann aus dem anderen Hute seinen Tänzer holte. Es hieß, dadurch solle alles Bedenkliche, was etwaigen Liebesverbindungen ankleben mochte, beseitigt, und der Tanz zu einer ganz harmlosen und unverfänglichen Unterhaltung erhoben werden; eine Folge davon war, daß sich derselbe zu einer Art von Sittengericht gebildet hatte, so daß jeder Bursche und jedes Mädchen es sich zur Ehre rechnete, am Loostanze Theil zu nehmen, und daß das Fernbleiben davon oder gar eine etwaige Ausschließung für die ärgste Schande gegolten hätte. Wohl meinten Manche, die Alles gern etwas leichter nahmen, das wäre nur Fabelei und der Loostanz nichts Anderes, als die Erfindung eines klugen Wirths, der dadurch auch jenen Mädchen zu Tänzern verhalf, welche sonst wegen Armuth oder Niedrigkeit verurtheilt waren, auf der Stiege dem Tanze zuzusehen, und deshalb die Stiegenhanseln hießen. Klügere aber wußten das besser und erzählten, der Loostanz stamme aus der Schwedenzeit oder sonst einer großen Kriegsgefahr, wie die Panduren im Baierlande gesengt und gebrannt. Damals sei der Feind auch in das Dorf gekommen, habe alle Häuser geplündert und alle Mädchen in die Schenke zusammengetrieben, um dort beim Gelage seinen wüsten Unfug mit ihnen zu haben. Die Dirnen seien aber rechtschaffen gewesen und hätten sich so tapfer gewehrt, daß sogar die wüsten Kerle Respect vor ihnen bekamen und versprachen, sie Alle freizugeben, wenn eine Einzige bei ihnen bliebe und mit ihnen ziehe als Marketenderin, welche aber dies thun solle, müsse das Loos entscheiden. Es wurde wirklich geloost und das auserkorene Opfer war eben im Begriffe, unter Schluchzen und Stöhnen von den geretteten Genossinnen Abschied zu nehmen, als glücklicher Weise ein Haufen bairischen Fußvolks herbei kam, die Panduren oder Schweden verjagte und Alle befreite; zum ewigen Andenken daran wird seither der Loostanz gehalten.

Eben hatte Sylvest einen ruhigeren Augenblick benützt, seinen Gefangenen zu besuchen, der gerührt seine Hand ergriff und schüttelte. „Du guter wackerer Bursche,“ rief er mit nassen Augen, „wie soll ich Dir danken? Ich will nicht von mir reden; ich vermöchte am Ende wohl die Folge dessen, was ich gethan, mit Fassung auf mich zu nehmen und zu ertragen, aber ich habe noch einen hochbetagten vortrefflichen Vater, der jetzt schon genug um meinetwillen gelitten hat. Deine unerwartete Hülfe erspart ihm vielleicht das schwerste Herzeleid, seinen einzigen Sohn als Hochverräther auf Lebenszeit in den Casematten einer Festung begraben oder gar auf dem Hochgerichte sterben zu sehen.“

„Reden Sie nicht so, Herr!“ entgegnete Sylvest hastig, „noch ist dabei gar nichts zu danken. Für’s Erste kommt Alles darauf an, daß Sie glücklich weiter kommen. Hier können Sie nicht länger bleiben, als höchstens bis morgen früh. Ich wundere mich schon lang’, daß die Gensd’armen noch nicht dagewesen sind und nach Ihnen spionirt haben.“

„Sei deshalb ganz unbesorgt, mein Freund!“ sagte der Flüchtling, „ich fühle mich schon jetzt in hohem Grade erfrischt und gestärkt und denke, nur den Einbruch der Nacht abzuwarten und mich dann wieder auf den Weg zu machen. In der Dunkelheit hoffe ich am sichersten durchzukommen.“

„Das glaub’ ich nicht, Herr,“ unterbrach ihn Sylvest, „ich glaub’, just bei der Nacht werden die Spitzeln am besten aufpassen, weil sie denken, Sie getrauen sich am hellen Tag nicht heraus; gerade deswegen müssen Sie am Tage geh’n und so thun, als wenn Sie gar nichts zu scheuen hätten, aber wo wollen Sie denn hin?“

„Du bist ebenso klug wie herzhaft,“ unterbrach ihn der Fremde, „allein ich bin nicht sicher, so lang ich deutschen Boden unter mir habe; wo man mich anträfe, würde man mich wieder ausliefern, ich muß daher trachten, so schnell wie möglich über die Schweizergrenze zu kommen. Wenn ich nur Augsburg glücklich erreichen könnte, hoffe ich wohl, auch nach Lindau und über den Bodensee zu gelangen, dann werde ich mich nach Paris wenden.“

„Oho,“ lachte Sylvest, „so weit sind wir noch lange nicht. Seien Sie froh, wenn Sie nur für die erste Zeit sicher sein und sich verstecken können – in ein acht oder zehn Tagen ist dann bei dem Aufpassen die größte Hitz’ schon verflogen. Dann können Sie es eher wagen und wieder hervor kommen. Wenn man Sie nur in der Näh’ irgendwo verstecken könnt’!“

„Als ich dem Gefängniß entsprang,“ erwiderte der Flüchtling, „sagte ich mir selbst, daß ich nicht die Richtung nach meiner Heimath einschlagen dürfe, weil man mich dort zuerst suchen würde; ich wanderte daher, als ich erst den Wald erreicht hatte, auf Gerathewohl in demselben weiter, bis ich mich hierher gefunden. Ich dachte dabei eines vertrauten Jugend- und Studienfreundes, der mich gewiß aufgenommen haben würde und der in dieser Gegend, wie ich mich dunkel erinnere, eine Besitzung haben soll. Es ist der Freiherr von Wildenroth, wenn Du vielleicht von ihm gehört hast …“

„Ob ich von ihm gehört habe!“ rief Sylvest erfreut. „Den kennt jedes Kind in der Gegend; der alte Herr ist vor etwa anderthalb Jahren gestorben und jetzt ist der junge Baron auf dem Gute, ein Mann, der in Ihren Jahren sein kann. Sehen Sie dort über dem Walde den Thurm? Das ist das Schloß Wildenroth – das können Sie leicht in anderthalb Stunden erreichen. Das Sträßlein, das Sie dort sehen, geht in weitem Bogen um das Dorf herum, aber über den Berg hinüber durch den Wald führt ein Fußweg, der um eine halbe Stunde kürzer ist.“

„Vortrefflich!“ entgegnete der Fremde, „aber wie kann ich dahin gelangen in diesem meinem Anzuge, den ich im Gefängniß abgetragen, ohne Hut, ohne …“

„Ja, dafür muß gesorgt werden,“ sagte Sylvest nachsinnend, „in dem Verzug (Anzug) dürfen Sie nicht hinaus, da könnten Sie Ungelegenheiten haben unterwegs. Mit einem Bauerngewand geht’s auch nicht, denn bei Ihrem Gesicht und den feinen Händen säh’ Ihnen ein Jeder auf zehn Schritt’ an, daß Sie kein Bauer sind.“ Er schritt wie suchend in der Kammer hin und her und blieb dann, von einem Gedanken überrascht, vor einem buntbemalten hohen Kasten stehen, dessen Flügelthüren er hastig aufriß.

Die hellblaue Ulanenuniform mit den carmoisinrothen Klappen und Aufschlägen, die weißen Fangschnüre und der Kalpak mit dem Hängbusch blinkten ihm entgegen.

„Juhe! da haben wir ja, was uns aus der Noth hilft,“ rief er freudig. „Sie ziehen die Uniform an; einen Ulanen, denk’ ich, werden Sie ganz gut vorstellen können; in der Uniform kommen Sie nach Wildenroth hinüber, ohne daß Ihnen ein Mensch was in den Weg legt, und damit es gar keinen Anstand hat, nehmen Sie meinen Paß und Abschied mit. Da ist auch ein kleines Beuterl mit Geld, damit Sie in keine Verlegenheit kommen.“

„Aber Mensch,“ unterbrach ihn der Flüchtling, „wie kommst Du dazu, mir solches Vertrauen zu erweisen? Du kennst mich nicht. Du weißt nur, daß ich dem Gefängniß entsprungen bin, daß man mich wie einen Verbrecher verfolgt. Fürchtest Du nicht, ehrlicher Bursche, daß ich Dich täuschen könnte, daß vielleicht Alles, was Du mir anvertraust, für Dich verloren ist?“

Sylvest sah ihm einen Augenblick fest in die Augen. „Nein, das fürcht’ ich nit,“ sagte er dann lächelnd, „dazu haben Sie ein viel zu gutes Gesicht. Sie geben dem Herrn Baron Wildenroth meine Sachen zum Aufheben und ich werd’ schon einmal Gelegenheit finden, daß ich hinüber geh’ und sie mir hole. Und was den Verbrecher betrifft, so mein’ ich, so viel ich von der Sach’ versteh’, es wird damit nicht so gefährlich sein, als es die Leut’ machen. Was haben Sie thun wollen? Die Landesherren absetzen? Das ist zum Lachen, das machen die Herren Studenten nit aus – da haben wir Bauern auch ein Wort darein zu reden, und von wegen dem Kaiser, so zimmt mich (scheint mir), wär’s damit auch nit so weit gefehlt, aber ich sorg, es wird noch viel Wasser in der Amper herunter rinnen, bis es damit was werden kann. Und nachher,“ fuhr er näher tretend und noch wärmer fort, „nachher ist es halt doch ein hartes Ding, wenn man gefangen ist oder verfolgt wird, wie ein gehetztes wildes Thier. … da mein’ ich, muß man helfen und nit lang fragen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 503. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_503.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)