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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

von Estorff nicht die Mittel, um die Ansprüche des ihr vom Gericht gestellten Armen-Anwalts zu befriedigen. Der Proceß zog sich durch die Jahre 1873 und 1874 hin und wurde endlich von den österreichischen Unter- und Obergerichten gegen die Klägerin und gegen das Urtheil der deutschen Gerichte entschieden.

Arm, recht- und trostlos steht die beklagenswerthe Mutter da; das Einzige, was wir ihr noch erwirken konnten, war die Erlaubniß, zur Confirmation ihres Kindes zum ersten Male an dasselbe schreiben, ihm brieflich ihren Segen zurufen zu dürfen und dafür den ersten Brief der Tochter zu empfangen.

Wir können es uns nicht versagen, wenigstens Einiges aus dem letzteren mitzutheilen:

„Laibach, den 30. März 1875.

Meine liebe Mutter! Mit welchem Gefühle schreibe ich diese Worte! Wenn ich andere Kinder bei ihren Eltern sehe, dann bin ich entsetzlich niedergedrückt durch die Entzweiung meiner Eltern, und ich fühle mich recht unglücklich darüber, daß ich nicht beiden angehören kann. Ich war viel bei fremden Leuten und habe früh das höchste Glück entbehren müssen, welches ein Kind auf Erden haben kann. – – Ich möchte so gern Dich kennen lernen, aber ich liebe ebenso meinen Vater und kann ihn nicht verlassen. Ich kann und darf ja auch nicht richten in dem unglücklichen Streite, der das Glück meiner Kindheit ebenso wie Euer Glück zerstört hat. Wie glücklich wäre ich, wenn Ihr Euch beide wieder näher treten und um meinetwillen Euch versöhnen könntet!

– – Jetzt naht meine Confirmation heran, und da drängt mich mein Herz, Dir, meiner Mutter, nahe zu treten und Dir zu sagen, wie Dein unglückliches Schicksal mir Kummer bereitet, und ich will zu dem lieben Gott bitten, er möge Alles zum Guten wenden. Deine Lehren werde ich gewiß erfüllen, und für Deine Segenswünsche sage ich Dir meinen herzlichen Dank. Sie haben mich tief gerührt, und nun kann ich doch auch mit dem Segen einer Mutter vor den Altar treten. Die Confirmation soll am elften April stattfinden, und der Gottesdienst beginnt Vormittags um zehn Uhr. Denke in dieser Stunde an mich, wie ich auch an Dich denken werde.

– – Für die Sachen, die Du für mich aufbewahrt hast, danke ich Dir herzlich, doch wie gerne wollte ich auf Alles verzichten, wenn ich meine lieben Eltern in Frieden sähe! –

Bei diesem Lebensabschnitt denke ich zurück an meine Kindheit, und ich will Dir einiges davon erzählen.

(Agnes war, nach dieser Erzählung, erst in der Schweiz, dann in Wilhelmsdorf, Ruckenstein, Graz und zuletzt in Laibach gewesen und auf Reisen nach Hamburg und Wien mitgenommen worden. Von Laibach schreibt sie:) Hier bin ich jetzt schon über zwei Jahre. In früheren Zeiten wurde meine Ausbildung öfters durch die Verhältnisse unterbrochen, aber in den letzten zwei Jahren habe ich tüchtig gearbeitet. Ich habe hier (bei dem evangelischen Geistlichen) ein ruhiges und friedliches Leben gehabt; wenn nicht der Druck meines Schicksals so schwer auf mir gelastet hätte, wäre ich ganz glücklich gewesen.

– Ich hoffe, daß mein Vater es erlauben wird, wenigstens brieflich mit Dir zu verkehren, auch wenn ich von hier fort sein werde. – Wenn mein Vater mein Schreiben nicht gestatten will, so möge Gott mir helfen, den rechten Weg zu finden. Für mein Gemüth wäre es eine schwere Prüfung.

Ich will das Beste hoffen, und somit schließe ich denn heute, von diesem meinem Schreiben zu sehr aufgeregt, um noch so Manches zu beantworten, was ich gerne schreiben möchte. Sei herzlich umarmt und geküßt von Deiner Dich treu und innig liebenden Tochter Agnes.“

Das ist der erste Brief des Kindes an die Mutter. Man sieht, das fünfzehnjährige Mädchen ist durch ihr Schicksal um einige Jahre reifer im Leben, als ihre harmloseren Altersgenossinnen. Ihr geistlicher Erzieher in Laibach schreibt über Agnes: „Die ungünstigen Verhältnisse haben auf ihre Gemüthsentwickelung ohne Zweifel einen schädlichen Einfluß geübt. Eine große Melancholie liegt über ihrem ganzen Wesen und giebt ihrem zarten Körper ein eigenartiges Gepräge. Ihre Gesundheit ist übrigens, wenn auch zart, eine constante, ihre Geistesausbildung, wenn auch im Einzelnen noch manches früher Versäumte nachzuholen bleibt, im Ganzen recht gut. Ihr Benehmen ist wohlerzogen und sehr anständig, ihr Charakter ernst und gut. Ich habe das Mädchen gern im Hause, und ich glaube, auch sie ist zufrieden, so weit sie es unter dem Drucke ihrer Lage sein kann.“

So steht das beklagenswerthe Kind da, von Dankbarkeit, Liebe, und Sehnsucht erfüllt und gequält, zwischen den getrennten feindseligen Eltern.

Und nun sollen wir, um die Mutter vor der Oeffentlichkeit zu vertheidigen, durch Enthüllung eines wahrhaft abscheulichen Familienbildes den Vater des Kindes an den Pranger stellen? – Nein! Es geht nicht! Wir sehen im Geiste das flehende Auge des Kindes, – wir sehen, wie es auch den zürnenden Blick der unglücklichen Mutter sänftigt: es geschieht dem Kinde zu Liebe, seiner Zukunft, der Ehre seines Namens, wenn wir heute und hier nur Andeutungen geben, welche zur öffentlichen Rechtfertigung der Frau von Estorff gegen die Beschuldigungen ihres geschiedenen Gemahls zeugen werden. – Daraus ergiebt sich von selbst, wie leider so vergebens; so unerfüllbar der rührende Wunsch des Kindes ist, daß die Eltern um seinetwillen sich versöhnen möchten.

Nach allen Urtheilen und Zeugnissen, die uns von Männern, die zur Wahrheit amtlich verpflichtet sind, über Herrn von Estorff zugingen, gehört er zu jenen Gestalten moderner Cultur, deren Verstandesbildung auf Kosten des Herzens geschehen ist. Von einnehmendem Aeußern und selbst mit wissenschaftlichen, namentlich archäologischen Kenntnissen ausgerüstet, entbehrt er der edlen Gesinnung; sogar der milde evangelische Geistliche, der letzte Erzieher seiner Tochter, welcher durch den Gang der Verhandlungen gewiß einen klaren Einblick in das fürchterliche Familiendrama gewinnen mußte, äußert sich über Herrn von Estorff in absprechender Weise. – Noch entschiedener, ja in Ausdrücken, die wir nicht mittheilen würden, selbst wenn wir die Berechtigung dazu hätten, urtheilt über ihn der ehemalige Irrenhausdirector von Werneck. Die Glaubwürdigkeit eines Mannes kann nicht in stärkere Zweifel gezogen werden. Aehnliches spricht ein amtliches Schriftstück aus, ein „Aerztliches Gutachten der Heil- und Pflegeanstalt Werneck“, dasselbe, welches auch Herr von Estorff, aber nur so weit es ihm taugte, citirt hat. Dort heißt es: „Einigermaßen erschwert wird der Entwurf einer Krankheitsskizze der Frau von Estorff durch die Unsicherheit, welche in alle Angaben des Herrn von Estorff dadurch hereinkommt, daß er Aussagen seiner Frau für wahnsinnige ausgab, die doch auf allem Anscheine nach bewiesene Thatsachen (Untreue des Mannes) sich bezogen. Hierdurch wird es unstatthaft, die von dem Manne beigebrachte Anamnese ohne Weiteres als eine richtige anzuerkennen, insbesondere bei einem Gutachten auf die von ihm herrührenden Angaben sich zu stützen etc.“

Daß Herr von Estorff, nachdem er sich in den Besitz des Vermögens seiner Gattin gesetzt, sie mit ihrer Familie entzweit und dadurch völlig schutzlos gemacht und die geheime Liaison mit Fräulein von Bünau angesponnen hatte, nur noch darauf ausgegangen sei, sich auf die sicherste Weise von seiner Gattin zu befreien, daß er deshalb ihre Reizbarkeit benutzt habe, um durch geistige und körperliche Mißhandlungen sie in einen Zustand zu versetzen, der ihm das augenscheinliche Recht gäbe, sie für immer der Freiheit, und zwar in einem Irrenhause, zu berauben, – das ist die Annahme der Frau von Estorff, die wir natürlich nicht vertreten können und deren Begründung eben das erfordern würde, was wir vermeiden wollen: die vollständige Enthüllung des Familienbildes. – Bleiben wir beim Actenmäßigen, so spricht das „Aerztliche Gutachten“ namentlich von der „besonderen Form der Seelenstörung, die, ohne eigentliche Verwirrung der Gedanken einhergehend und auf den ersten Anschein nur das Gemüthswesen alterirend, sowohl in Folge der schonenden und rücksichtsvollen Behandlung in der hiesigen Anstalt, in der alle Reizungen möglichst fern gehalten wurden, als auch des Bestrebens der Frau von Estorff, uns Allen gegenüber als gesund zu erscheinen, in entschieden gemilderter Weise zur Beobachtung kam.“ – Daraus läßt sich wenigstens schließen, wie furchtbar jene „Gemüthsalteration“ gewesen sein muß, daß sie die Form der „iracundia morbosa“ (krankhafte Zornmüthigkeit) annehmen, ja daß der Anstaltsdirector sogar deren Heilbarkeit bezweifeln konnte. Später schrieb uns derselbe, daß jetzt, nachdem Frau von Estorff in ihrer Vereinsamung die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 473. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_473.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)