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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


und bigotter Menschen. Ohne die geringsten positiven Kenntnisse erworben zu haben, wird er vom sechsten oder siebenten Jahre an in den talmudischen Wissenschaften unterrichtet; man lehrt ihn Dinge, denen ein reifer Kopf kaum gewachsen. Es kann nicht verwundern, daß der zum Jünglinge gewordene Knabe bald Meister in der Talmudweisheit, daß er mit unnachahmlichem Scharfsinne der schwierigsten und verwickeltsten Stellen mit Leichtigkeit Herr wird, Dinge versteht, die für seine künftige Existenz und Lebensstellung oft vollkommen unergiebig und werthlos sind. Für die Ausbildung des Geistes, was jüdisches Wissen anbetrifft, mit größter Peinlichkeit besorgt, verwahrlost man vollständig die körperliche Ausbildung und zieht Menschen heran, die vor dem Eintritt der Reife schon schwach und hinfällig sind. Kaum ist er dem Knabenalter entwachsen, so verheirathet man ihn mit Eintritt des siebenzehnten oder achtzehnten Jahres an ein ebenso verwahrlostes junges Mädchen, das als künftige Mutter die Erziehung ihrer Kinder zu leiten und ein eigenes Hauswesen zu gründen bestimmt ist. So vererben sich diese verrotteten Sitten von Geschlecht zu Geschlecht, und es kann nicht befremden, wenn wir Menschen aufwachsen sehen, die, marklos und unfähig zur körperlichen Arbeit, gleich menschlichen Schmarotzern auf den Erwerb ihrer Nebenmenschen angewiesen sind und dem Laster des Müßiggangs anheimfallen.

Bei dem großen Gewichte, das die polnischen Juden auf die Fähigkeit zum „Lernen“, das heißt zum Talmudstudium legen, kommt es nicht selten vor, daß bei Heirathen die Tüchtigkeit des betreffenden Candidaten im „Lernen“ der einzig und allein bestimmende Factor ist. Wohlhabende und reiche Leute verheirathen ihre Töchter an arme junge Leute, deren einziger Empfehlungsbrief in dem Satze besteht: „er kann gut lernen.“ So lange der Schwiegervater lebt oder im Stande ist, seinem Geschäfte vorzustehen, lebt der Schwiegersohn in dessen Hause und beschäftigt sich ausschließlich mit „Lernen“. Bald aber tritt an ihn die Aufgabe, das bisher in kundiger Hand ruhende Geschäft selbstständig fortzuführen, und da kann es denn nicht ausbleiben, daß dasselbe unter der Leitung des früheren „Bachurs“, der sich zeitlebens nur mit „Lernen“ beschäftigt und von den Kniffen und Praktiken des Handelsstandes nicht die geringste Ahnung hat, immer mehr zurückgeht und daß zuletzt kaum soviel bleibt, um die nothwendigen Lebensbedingungen zu erfüllen. Bar aller materiellen Mittel, ohne die Fähigkeit, in anderer Weise den Lebensunterhalt für seine allzu zahlreiche Familie zu beschaffen, was bleibt ihm übrig als Frau und Kind zu verlassen und in gesegneteren Ländern sein Leben zu fristen? – er wird ein „Schnorrer“!

Das ist ein Fall. Ein anderer nicht minder häufiger Fall tritt ein in Folge von Steuerdefraudation, deren Entdeckung sie auf ewig von der heimathlichen Stätte bannt, und noch häufiger kommt es vor, daß junge Leute aus Furcht vor schwerem Militärdienste sich demselben durch Ueberschreiten der russischen Grenze zu entziehen suchen. Rechnet man hierzu die Ungunst der gesammten Lebensverhältnisse, die dichtgedrängte Bevölkerung und die „Intoleranz“ der russischen Behörden, so wird man es erklärlich finden, wenn alljährlich ganze Schaaren von polnischen Juden den Wanderstab ergreifen und wie Heuschrecken die Städte und Dörfer Deutschlands durchziehen.

Diese Reise eines polnischen Juden ist eine Kunstreise im wahren Sinne des Wortes. Ausgerüstet mit Empfehlungsbriefen von Rabbinen und Capacitäten seiner Heimath, die entweder lauten: „Ich bezeuge hiermit, daß N. N. ein heruntergekommener frommer und der Unterstützung bedürftiger Mann ist, den ich der Berücksichtigung meiner Glaubensgenossen dringend empfehle“, oder aber die Bestätigung der Angabe enthalten, daß der zu Empfehlende im Begriffe stehe, seine Tochter zu verheirathen, ihm aber die dazu erforderlichen Mittel abgehen, verläßt der Jude seine Heimath und wendet sich zuvörderst zu den nächst gelegenen Orten. Betritt er das Weichbild einer Stadt, so ist sein erster Gang zu dem Geistlichen oder Beamten der Gemeinde, der entweder sich selbst für ihn verwendet oder ihm über alles Wissenswerthe die gewünschte Auskunft ertheilt. Auch giebt er ihm wohl selbst etwas aus seiner eigenen Tasche und ladet ihn bei sich zu Gaste, da es ihm darum zu thun ist, sich in seinem Umkreise durch den Leumund der polnischen Juden einen guten Ruf zu verschaffen. Ist der Fremde ein „Lamden“, das heißt ein Gelehrter, so wird ihm auch seitens der Gemeinde Unterstützung zu Theil, und reich beschenkt und geehrt verläßt er die fromme Gemeinde. Das ist der „anständige“ Bettler.

In eine andere, tiefer stehende Kategorie fällt der Straßen- oder Hausbettler. Von Haus zu Haus wandernd, entwickelt er im Laufe seines Bettelganges eine Virtuosität und Unverschämtheit, die geradezu erstaunlich ist. Zuerst kriechend und demüthig, steigern sich seine Forderungen weniger grobkörnigen Personen gegenüber, und je mehr man seiner Unverschämtheit nachsieht, mit rapider Schnelligkeit. Giebt man ihm Geld, so bittet er um Mittags- oder Abendtisch; gewährt man ihm auch diesen, so kommen alte Kleider an die Reihe, die wieder irgend einem anderen Wunsche Platz machen. Reißt Einem endlich dabei die Geduld, so mache man sich gefaßt, noch Grobheiten und unverschämte Zurechtweisungen mit in den Kauf nehmen zu müssen. Dabei sind diese Leute oft durchaus nicht Das, was sie scheinen. Viele besitzen Mittel genug, um sich zu Hause anständig zu ernähren, und betteln nur aus Gewohnheit.

Ein seiner Heimath entlaufener polnischer Jude ist wie ein dem Käfige entsprungener Vogel. Zu Hause ein durch den Glauben und die Sitten seines Landes in seinem Thun eingeschränkter Mensch, streift er in der Fremde alles Ueberflüssige und Sittlich-Religiöse ab und wird in letzterer Beziehung ärger denn die von ihm verketzerten Juden Deutschlands. Den ihn kennzeichnenden Jargon und die Tracht, „Schubbeze“ (das schwarze Gewand), „Peies“ (die Locken) und lange Stiefel, behält er zwar bei, sonst aber erinnert nichts mehr an den früheren in Frömmigkeit und Demuth ersterbenden polnischen Juden. Nur Eines ist ihm heilig: der „Schabbes“, der einen Ruhepunkt bildet in dem Einerlei seines Bettelhandwerks, an dem er Station macht auf seiner Geschäftsreise, die, mühe- und dornenvoll wie sie ist, doch eines gewissen poetischen, an die Zeit der Romantik gemahnenden Reizes nicht entbehrt.

Zu den letzteren Erscheinungen gehört unzweifelhaft die Gabe, selbst in den verwickeltsten Lagen des Lebens den Humor nicht zu verlieren. Daß diese Gabe den polnischen Juden in hohem Maße eigen, ist eine notorische Thatsache, die nicht weiter bewiesen zu werden braucht. Wir wollen jedoch dem Leser einige Beispiele polnisch-jüdischen Witzes, zugleich zur näheren Charakteristik der Art und Weise, wie die polnischen Juden ihr Handwerk verstehen, hier vorführen.

Wie alle populären Persönlichkeiten im Laufe der Zeit vom Volke mit einem dichten Mythenkranze geschmückt worden, so erzählt man sich auch von Baron Anselm von Rothschild allerlei Schnurren, bei denen er entweder activ oder passiv betheiligt ist. Zu den letzteren gehört folgende: Ein im Innern Polens wohnender Jude, zu dem der Ruf von dem Reichthume und der Wohlthätigkeit des Barons gedrungen war, machte sich auf gen Frankfurt und erreichte nach vielfachen Mühen und Anstrengungen glücklich das Ziel seiner Wanderung. Wie er nach langem Umherirren die Wohnung Rothschild’s erreicht hatte und in seiner wenig ansprechenden Tracht in dieselbe einzudringen im Begriffe stand, trat ihm ein wachsamer Cerberus entgegen und bedeutete ihm, daß der Eintritt in die Gemächer seines Herrn Leuten seines Schlages nicht gestattet sei.

Der Jude, der seine ganze Hoffnung in seinen reichen Glaubensbruder gesetzt und direct um Rothschild’s willen die lange und mühevolle Wanderung nach Frankfurt unternommen hatte, betheuerte und beschwor den Lakaien, ihn um seiner Seligkeit willen zu seinem Herrn zu führen, da er ihm nur ein einziges Wort zu sagen habe und seine Zeit nicht im mindesten in Anspruch nehmen wolle. Der Lakai, der ein menschliches Herz hatte, ging zu seinem Herrn und kam mit dem befriedigenden Bescheide zurück, daß der Jude eintreten, aber nur ein einziges Wort sprechen dürfe. Als der Jude die Thür geöffnet und des Barons ansichtig geworden war, sagte er nichts als: „Gemara!“[1]

Verwundert schaute sich Rothschild um und fragte den ruhig stehen gebliebenen Juden, was er damit sagen wollte?

Dieser erwiderte, indem er jedes Wort stark betonte, so daß die Identität der vier Anfangsbuchstaben des Wortes „Gemara“ herauszumerken war: „Guten Morgen, Reb Anschel (Herr Anselm)!“

  1. Dieses mit den vier Buchstaben G, M, R, A geschriebene Wort ist eine hebräische Bezeichnung für den Talmud.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 470. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_470.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)