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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


die Gegend und etwas, was jeden Gefangenen interessirt, den Flug der Vögel.

Eine lateinisch geführte Unterhaltung meiner Zellennachbarn störte mich in meiner Beobachtung der Schwalben, Tauben und Sperlinge. Die Unterhaltung galt dem neuen Nachbar, also mir. Meine Nachbarn, die mich noch nicht gesehen, sondern nur die Einquartierung des Ankömmlings gehört hatten, tauschten ihre Vermuthung über die Natur des Vergehens, dessen ich mich schuldig gemacht habe, aus. Der Eine hielt den Ankömmling für einen jener Leipziger Geschäftsmänner, die wegen des Verbrechens bestraft werden, welches die römischen Juristen das crimen lenocinii nannten, der Andere für einen Wilddieb. Beide Voraussetzungen waren nicht schmeichelhaft, aber ich mußte darüber lachen. Als das Gespräch verstummte, klärte ich meine Schicksalsgefährten gleichfalls in lateinischer Sprache über meine Persönlichkeit auf und nannte Ihnen meinen Namen. Damit war ich in die Gemeinschaft der politischen Gefangenen dieses Flügels, den man scherzhafter Weise seiner bessern Lage und Aussicht auf die Gärten wegen die Pairs-Kammer nannte, aufgenommen. Mein Nachbar, ein Candidat der Theologie und politisch entschieden freisinnig, in religiöser Beziehung aber durchaus orthodox, in welchem ich später einen ebenso kenntnißreichen, wie liebenswürdigen Menschen kennen lernte – er ist jetzt Director einer öffentlichen höheren Lehranstalt im deutschen Reiche – fragte mich, ob ich vielleicht Hunger habe? Ich verneinte, doch mußte mich der Andere nicht verstanden haben, denn ein paar Minuten später wurde mir mitgetheilt, daß der Telegraph arbeiten werde, und zugleich flog eine doppelte Bindfadenschnur an mein Fenstergitter, die man mir mit der Bedeutung zuwarf, daß ich sie anziehen solle. Ich zog an, und eine Bratwurst, ein Cotelett, ein Weißbrödchen, eine saure Gurke, Cervelatwurst, Cigarren tanzten an dem Telegraphen durch mein Fenstergitter. Jeder meiner Mitgefangenen hatte seinen Beitrag gesteuert.

Doch ich will nicht bei dem Erzählen dieser Erinnerung meine persönlichen Schicksale in den Vordergrund stellen. Ich schreibe dies nieder, um zu zeigen, wie es damals nach einer Zeit des leidenschaftlichsten Kampfes in Deutschland Gefängnisse gab, in welchen politische Gefangene in einer Weise behandelt wurden, die in Uebereinstimmung stand mit den Grundsätzen der Humanität und die dem Charakter des Vergehens Rechnung trug. Es hat Strafanstalten gegeben, wo dies nicht der Fall gewesen ist. Ich erinnere an die Schilderungen aus Waldheim, die ein sehr düsteres Blatt in der Geschichte der Behandlung politischer Gefangenen in Deutschland ausfüllen. Denn wenn auch manche Erleichterung, welche wir in Schloß Hubertusburg genossen, der Persönlichkeit des Directors, Hauptmann von Bünau zu danken war, der, soweit dies mit seiner verantwortlichen Stellung vereinbar war, sich als ein Mann von Humanität und – es klingt dies in diesem Falle fast eigenthümlich – sogar von liebenswürdigem Wesen gegen uns zeigte, so war doch auch die an sich sehr straffe Gefängnißordnung in Hubertusburg eine solche, die dem Gefangenen mehr Erleichterungen gewährte, als dies in vielen anderen deutschen Gefängnissen der Fall war und gegenwärtig der Fall ist. Nicht ohne Erstaunen, ja mit Empörung habe ich die Schilderung gelesen, die jüngst ein neuerdings vielgenannter Schriftsteller, Paul Lindau in Berlin, von seiner kurzen Haft in Plötzensee gegeben hat. In Hubertusburg gab es für die politischen Gefangenen, die ihren Unterhalt aus eigenen Mitteln bestritten, keine Gefängnißkost. Man hatte die Wahl, aus dem Gasthofe „Zum Rothen Ochsen“ in Wermsdorfs sich zu beköstigen oder auf das Anstaltsessen zu abonniren.

Ich zog das Letztere vor. Für den Preis von zusammen sechs Thalern abonnirte ich mit meinem Zellennachbar auf die erste Classe der Anstaltskost, weil ein einziger Mensch unmöglich das verzehren konnte, was ihm für diese sechs Thaler monatlich geliefert wurde. Jeder von uns gab also monatlich drei Thaler, und wir erhielten dafür außer Kaffee – der allerdings nur für eine Person berechnet war, so daß wir je eine Woche um die andere abwechselnd noch eine Portion täglich vom Oberaufseher entnahmen – Mittags und Abends soviel gutes Essen, daß wir häufig noch davon verschenken konnten. Es gab täglich Gemüse mit Fleisch oder Suppe mit Braten, Abends kalte Küche, Schinken, Wurst, kalten Braten, zuweilen auch eine Kaltschale, und Alles war frisch und sehr gut zubereitet, viel besser, als in manchen Leipziger Restaurationen, in denen wir als Studenten zu essen pflegten. Außerdem bekamen wir für diese sechs Thaler täglich eine Kanne Braunbier, genügendes Brod und wöchentlich ein Stück frische Butter. In der ersten Classe der Anstaltskost erhielt man dasselbe Essen, welches die höheren Anstaltsbeamten, die keinen Hausstand hatten, bekamen. Lagerbier durfte, ich weiß nicht warum, nicht eingeführt werden. Dagegen war es gestattet, außer dem Braunbier Wein zu trinken und Cigarren in der Zelle zu rauchen. Den Wein konnte man sich von auswärts kommen lassen, erhielt ihn aber auch aus der Anstalt billig und gut geliefert. Wir hatten in der Mehrzahl unsere eigenen Betten, und manche hatten die bescheidene Ausstattung ihrer Gefängnißzelle durch ein Sopha oder einen Sessel, den sie dem Magazine eines Möbelverleihers in Wermsdorf entliehen, etwas comfortabler zu machen gesucht. Vor- und Nachmittags wurde uns eine kurze Promenade in einem kleinen Grasgarten des Schlosses, in welchem sich auch eine Turnanstalt befand, gestattet.

Diese Freistunden waren die einzigen Tageszeiten, in welchen wir uns von Angesicht zu Angesicht sahen, denn während des übrigen Tages saß Jeder in seiner Zelle allein. Alle Stände und Altersclassen waren vertreten, Aerzte, Geistliche, Assessoren, Lehrer, Advocaten, Rechtscandidaten, Studenten aller Facultäten, Buchhändler, Schriftsteller, Officiere a. D., Ingenieure, Fabrikanten und Handwerker; sogar ein Gymnasiast, ein junges, munteres Blut Namens von T., dem auch der wunderschöne Monat Mai die Brust mit Freiheitsdrang erfüllt und ihn auf die Dresdener Barricaden geführt hatte, war da. Doch waren die Vertreter der wissenschaftlich gebildeten Berufsclassen viel zahlreicher, als die der anderen.

Ein Original unter diesen Gefangenen war ein ehemaliger königlich preußischer Premier-Lieutenant von H. aus einer alten Adelsfamilie Preußens. Er verdankte seinen Aufenthalt in Schloß Hubertusburg, wie er mir einst auf einem Spaziergange im Garten erzählte, einer Broschüre, die er geschrieben und die ihn in Conflict mit der Leipziger Criminalbehörde gebracht hatte. Die Broschüre führte den curiosen Titel: „Der Hunger und die deutschen Fürsten, ein deutsches Rechenexempel“. Obgleich damals in seinen Vermögensverhältnissen etwas derangirt, verleugnete von H. auch im Gefängnisse den Gentleman nicht. In Ermangelung einer andern Sommergarderobe trug er die grauen Sommerkleider von Leinwand, die ihm von der Anstalt geliefert wurden, aber nie fehlten die schönen Reste einer bessern Vergangenheit, die buttergelben Glacés und die Glanzstiefel. Er war der Einzige, der über das Ende seiner Strafhaft, das nahe bevorstand, nicht gerade sehr erfreut war, und zwar weil sich, wie er mir sagte, über seine Heimathsangehörigkeit in Folge des häufigen Wechsels seines Domicils – er hatte früher in Posen in Garnison gestanden – eine Controverse entsponnen hatte, die ihn, wenn er frei wurde, wahrscheinlich zu einem Heimathslosen machte. Nach Jahren führte mich der Zufall wieder mit ihm zusammen. Er war nicht ohne eine wissenschaftliche Bildung, und dieser verdankte er die günstige Lage, in der ich ihn wieder sah. Er war ein sehr gutmüthiger, anständiger Charakter, und um so mehr bedauerte ich die Katastrophe, die wenige Monate nach unserm Zusammentreffen über ihn hereinbrach. Er hatte ein junges, schönes Mädchen geheirathet, das sich dann von einem Officier entführen ließ. Auf der Flucht verfolgt und so gut wie ergriffen, vergiftete sich das verzweifelnde Paar. Die tragische Geschichte ging damals – es war im Anfange der sechsziger Jahre – durch die deutschen Zeitungen und erregte bei Denen, welche die Persönlichkeiten kannten, allgemeine Theilnahme.

Doch ich bin von der Schilderung des Stilllebens in Schloß Hubertusburg abgekommen. Briefe, abgehende wie ankommende, unterlagen der Controle des Directors. Ebenso konnten Besuche nur im Directionszimmer und unter Aufsicht empfangen werden. Von Zeitungen erhielten wir täglich zum Nachmittagskaffee die „Leipziger Zeitung“, deren Ankunft Jeder mit Spannung entgegen sah, da sie ja die einzige Quelle war, aus welcher uns politische Neuigkeiten zuflossen. Sonntags war für Manche der Kirchenbesuch eine Unterbrechung der Einförmigkeit ihres Daseins. An einem Sonntage war es auch, an dem mir der Director, eben als ich aus der Kirche kam, in welcher der Pastor W. mit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 354. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_354.jpg&oldid=- (Version vom 14.8.2016)