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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


„Und wolltest doch –“ er trat hinter sie und legte die Hand auf ihre Schulter. „Du hast mir gezürnt, Cläre,“ sagte er, „und mit gutem Rechte. Ich will mich nicht für besser ausgeben, als ich bin. Ja, ich glaubte einen Riegel vor mein Herz gelegt zu haben, den ich nun selbst nicht mehr fortschieben könnte. Ich ging aus, Dir meine Hand anzubieten – ich bildete mir ein, wir könnten ein Paar werden, wie es so unzählige Paare giebt, die sich mit freundschaftlichem Wohlwollen begnügen und in treuer Pflichterfüllung ihre Befriedigung finden. Was soll ich Dir sagen? In diesem Augenblicke begreife ich mich selbst schon nicht mehr. Alle die guten Gründe, die mein Mißmuth gelten ließ, zerfließen in Nebel vor dem ersten Aufstrahle neuer Hoffnung. Und ich weiß nun nicht einmal, woher mir dieses Licht kommt, ob es nicht ein trüglicher Schein, der nur neue Unruhe in meinem Herzen weckt. Wer hat mir Juliette’s Bild, das mir vor zwei Jahren entwendet wurde, zugeschickt? Es ist in Lausanne zur Post gegeben: das ist mir der einzige Wegweiser. Die Adresse auf dem Couvert ist nicht von Juliette’s Hand; wie sie in den Besitz des Bildes gekommen sein sollte, begreife ich nicht. Und doch ist mir jetzt nichts so unumstößlich gewiß, als daß ich den Absender des Briefes ermitteln, Juliette aufsuchen, meine Liebeswerbung von Neuem beginnen muß – daß ich ein anderes Weib heimführen werde. Ich reise noch heute ab, und wann ich zurückkehre und wie ich zurückkehre, steht dahin. Sprich Du mit meiner Mutter, erkläre ihr, so viel Du selbst von diesen räthselhaften Fügungen begreifst – ich verweise sie beim Abschiede an Dich. Und so – lebe wohl!“

Clärchen reichte ihm beide Hände. „Meine besten Wünsche begleiten Dich, Arnold,“ sprach sie mit innigstem Ausdrucke. „Eine Stimme des Herzens sagt mir, Du wirst sie finden, Du wirst glücklich sein. Der gute Gott kann ja nicht wollen, daß die finsteren Mächte der Feindschaft obsiegen: die er in Liebe bindet, wird er auch mit starker Hand zusammenführen. Ich vertraue seiner Güte.“

„Möge auch Dir Dein frommer Glaube helfen!“ sagte Arnold, einen Kuß auf ihre Stirn drückend.

„Nichts von mir,“ bat sie, „wenn Du mich lieb hast, nichts von mir!“ – –

Am zweiten Tage darauf langte Arnold Rose in Lausanne an. Der treue Kruttke begleitete ihn, wie es bestimmt war. Sie nahmen in einem der größten Hôtels Wohnung, und sofort begannen die Erkundigungen nach der Familie Blanchard und nach Credillon. Sie waren ganz vergeblich. Man wußte auf dem Stadthause nichts von ihnen; Arnold durchforschte die Fremdenbücher aller Hôtels auf’s Genaueste – sie enthielten diese Namen nicht. In den kleinsten Pensionen wurde umsonst nachgefragt. Auch in den reizenden Ortschaften, die sich unterhalb der Stadt am See hinziehen, blieb kein Haus ohne Nachfrage. Stundenlang promenirte Arnold auf der schönen Brücke auf und ab, die so kühn die beiden Stadttheile verbindet und über deren Steineinfassung auf das lachende Seegelände und den kleinen See hinabzuschauen kein Fremder unterläßt. Bei jedem Abgange der Eisenbahn war er auf dem Perron; jedes Dampfboot, das Gäste brachte und holte, controlirte er. Ohne jeden Erfolg!

So verging eine Woche. Die Hoffnung, hier in Lausanne auf die Spur zu treffen, wurde immer schwächer. Entfernte er sich aber von diesem Punkte, so erweiterte sich sofort nach allen Seiten hin der Gesichtskreis in’s Grenzenlose. Es war unmöglich zu sagen, nach welcher Richtung hin die weitere Nachforschung sich am ehesten fruchtbar erweisen konnte, aber er meinte doch klug zu handeln, wenn er zunächst mit der Wahrscheinlichkeit rechnete. Er ließ Kruttke in Lausanne zurück und fuhr nach Genf; war doch anzunehmen, daß Reisende aus Paris sich dorthin wandten, und für die Familie Blanchard konnte die calvinistische Stadt besonders anziehend gewesen sein. Auch hier begann wieder die mühselige Wanderung von Hôtel zu Hôtel. Er hätte sie sparen können.

Seine Aufregung wurde immer leidenschaftlicher; trotz der körperlichen Erschöpfung brachte ihm die Nacht nur den unruhigsten Schlaf. Es war ihm ein unendlich peinigender Gedanke, daß er Juliette vielleicht ganz nahe sei und sie doch nicht erreichen könne. Immer wieder träumte er, er stehe an einer Straßenecke und wisse nicht, ob rechts, ob links; endlich entscheide er sich, und während er nun seinen Weg fortsetzte in der Hoffnung, ihr zu begegnen, gehe sie hinter ihm vorüber. Und dann wieder zwischen Traum und Wachen schien es ihm unsinnig, sie überhaupt hier zu suchen, bevor er auch nur darüber Gewißheit erlangt habe, ob sie sich denn von Hause entfernte. Dieses Bedenken wurde eines Morgens so zwingend, daß er den nächsten Eilzug bestieg und nach Paris fuhr, um sich Ueberzeugung zu verschaffen.

Er fand die bekannte Villa ungefähr so, wie er sie zuerst gesehen hatte: die Fenstervorhänge rundum waren herabgelassen; kein Mensch bewohnte sie. Er erfuhr, daß Herr Charles Blanchard vor etwa einem Jahre verstorben sei; das Geschäft sei in andere Hände übergegangen; die Wittwe habe schon vor Monaten den Ort verlassen; über ihren jetzigen Aufenthalt wisse man nichts. Wahrscheinlich lebe sie mit ihrer „kranken“ Tochter „irgendwo im Süden“; Credillon sei als Unterpräfect nach einem entfernten Departement versetzt.

Diese Nachrichten waren wichtig genug. Blanchard todt! Sein fanatischer Widerspruch fiel nicht mehr in die Wage. Wenn er über sein Grab hin die Hand der Geliebten faßte – den Todten konnte es nicht beunruhigen: aber die Lebenden vielleicht? Und Juliette krank? Das junge, blühende Mädchen! Sie hatte Wort gehalten: eines Andern Weib war sie nicht geworden. Und wie wuchs nun die Wahrscheinlichkeit, daß sie ihrer Gesundheit wegen mit der Mutter am Genfersee verweile, daß Frau Blanchard die Adresse schrieb! Er suchte das Grab ihres Mannes, des braven Patrioten, auf, der Frankreichs Niederlage nicht hatte verschmerzen können, und sprach ein Gebet darüber. Dann eilte er nach Lausanne zurück.

Kruttke konnte ihn beruhigen, daß er inzwischen nichts versäumt habe. „Ich denke mir so in meinen dummen Gedanken,“ sagte er, „auf die Manier geht’s nicht. Hier sind die Herrschaften nicht, und auch niemalen gewesen. Und wenn das Fräulein hätte merken lassen wollen, wo sie ist, so hätte sie doch lieber gleich ein paar Worte geschrieben. Aber accurat nicht! Der Brief ist blos hier in den Briefkasten geworfen, daß wir nicht wissen sollen, wo sie ist. Aber zu weit, meine ich, wird sie deshalb nicht gegangen sein, denn weit oder nicht weit, es verschlug immer dasselbe. Na – und wenn sie sich partout gar nicht finden lassen wollte, dann hätte sie doch auch das Bild nicht fortgeschickt. Also calculire ich so: hier herum ist es schon. Fragt sich nur noch, wo? Das ist aber am besten vom Wasser aus zu übersehen, dieweil man da den weitesten Blick hat und überall an’s Land kann, wo’s einem scheint. So ein schönes blaues Wasser lockt auch Gesunde und Kranke hinaus und Jeder will in die Mitte. Da wimmelt denn der See an jedem Abende von allerhand Fahrzeugen, und auf einem könnte das Fräulein doch einmal sein. Denn wieso nicht?“

Gegen diese Logik ließ sich freilich nichts einwenden, und so ganz dumm erschien der Vorschlag gewiß nicht. Es ermittelte sich, daß Kruttke die Bekanntschaft eines Bootsführers gemacht hatte, der in einer norddeutschen Stadt zu Hause und lange Jahre Matrose gewesen, dann mit seinem kranken Capitain hierher gekommen war und nach dessen Tode einem Engländer den Kutter abgekauft hatte, den er nun Liebhabern von Segelfahrten unten, nicht weit vom Dampfbootplatze, zur Verfügung stellte. Mit seinen zwei dreieckigen Segeln überholte er jedes andere Fahrzeug, wendete leicht und scharf, fuhr blitzschnell im Zickzack über den See und schien selbst gegen den Wind vorwärts zu kommen. Das hatte Kruttke mit Verwunderung wiederholt angesehen, und als er den Mann einmal bei einem Zusammenstoße mit anderen Böten am Hafenplatze einen derben deutschen Fluch ausstoßen gehört, war er sogleich mit ihm in Verkehr getreten.

Arnold miethete den Kutter für unbestimmte Zeit. Er kreuzte nun an jedem Abende den See in allen Richtungen und gab Befehl, jedem begegnenden Boote so dicht vorbeizufahren, daß man die Personen darin deutlich erkennen könne. So geschickt der Matrose dieses Manöver auszuführen wußte, so gefahrdrohend schien doch jedesmal die Annäherung des scharfen Seglers, und bald war zu bemerken, daß man ihm schon von fern auszuweichen suchte. Arnold hatte die Aufmerksamkeit auf seine Person gelenkt, und das konnte ihm nützlich sein. Vielleicht war es auch kein übler Einfall, daß er eine Flagge mit der Aufschrift „Juliette“ anfertigen und an der hintern Maststange befestigen ließ. Die weißen Buchstaben im rothen Flaggentuche waren weithin sichtbar, und man hatte nun doch einen Namen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 326. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_326.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)