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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

bis dahin völlig unbekannten Poeten war ein Ereigniß geworden. Die Ehrenbezeigungen, welche Herwegh auf seiner Reise durch Deutschland erhielt, schienen sich sogar officiös zu färben. Bekanntlich nahm er ein gleichzeitiges Wort des Königs: „Wir wollen offene Feinde sein“, etwas allzu wörtlich und machte von dieser „offenen Feindschaft“ in der Leipziger „Allgemeinen Zeitung“ einen so unhöflichen Gebrauch, daß die preußische Regierung ihn noch weiter zu gehen zwang, das heißt ihn Landes verwies.

Der schwache Mensch bleibt Mensch. Es war, genau genommen, kein Wunder, wenn einem jungen Poeten nach so vielen positiven und negativen Huldigungen der Kamm schwoll und er sich dem Wahne überließ, genug für die Unsterblichkeit gearbeitet zu haben. Herwegh ließ im Schaffen nach; er gab noch einen zweiten Band der „Gedichte eines Lebendigen“ heraus, aber – – –

Doch ja! das Urtheil der Welt ist oft ein ungerechtes. Die königliche Ungnade, die Ausweisung aus Preußen hatten dem loyalen Unterthanenverstande das Recht gegeben, nach dem neuen poetischen Gestirne mit Steinen und Koth zu werfen; dem Liberalismus der Philister flößte sie Furcht ein. Obgleich dieser zweite Band der „Gedichte eines Lebendigen“ Erzeugnisse enthielt, wie sie in wunderbarer Schönheit kaum der erste aufzuweisen hatte, so zerrte man jetzt bereits auch den Dichter von seinem Piedestal herunter. Gewiß, ich will die vielen wohlfeilen und verbissenen „Kalauer“ satirischer Xenien nicht vertheidigen, noch den thörichten Wahn des Poeten, der sich zum praktischen Politiker erhoben glaubte, aber es empörte nicht allein mich, sondern auch viele, viele Andere, welche zur Person und zu dem Standpunkte Herwegh’s eine ablehnende Stellung einzunehmen gezwungen waren, daß man den dichterischen Genius zum Prügeljungen für die Sünden und Irrthümer des Menschen und Politikers machte. Der Ausruf:

„Raum, Ihr Herr’n, dem Flügelschlag
Einer freien Seele!“

ist gleichwohl durch den zweiten Theil der Gedichte, trotz aller Neidhammelei, eine classische Sentenz geworden.

Liest man heute die „Gedichte eines Lebendigen“, so wird uns ihre tendenziöse politische Seite kalt lassen, aber doppelt so schön, wo uns die Programme todter Parteien nicht mehr am Gängelbande führen, wird der poetische Werth der Herwegh’schen Dichtungen hervortreten. Ihr Eindruck ist heute ein mehr künstlerischer. Die Phrasen sind wie die Posaunen des Orchesters in einer Ouverture. Sie nehmen Theil am Ganzen, doch wir geben ihnen heute nicht mehr das Vorrecht, daß wir sie als leitende Instrumente betrachten. Sie schildern uns in den Augenblicken, wo sie einsetzen, nur noch eine Zeitepoche, und wir gestehen uns selbst ein, daß ihr Geblase keine Mauern von Jericho umwerfen kann.

Die Posaunenstöße in den „Gedichten eines Lebendigen“ aber machten Schaaren von Finken und Zeisigen in dem deutschen Dichterwalde lebendig. Was zwitschern und piepsen konnte, zwitscherte und piepste „Tendenz“. Wenn Deutschland hätte mit Versen befreit werden können, es wäre eine Musterrepublik, deren Glanz bis in die vorsündfluthlichsten Zeiten hätte zurückstrahlen müssen. Und wenn die Verse der Nachtreter Herwegh’s Dolche gewesen wären, es lebte heute kein „Tyrann“ mehr auf Erden. Man muß den guten Willen für die That nehmen. Als nun später, im Gegensatz zu Herwegh, auch fromme und loyale Poeten das Schwert an die Leier schnallten, würgte man sich gegenseitig auf dem deutschen Parnaß und der poetische Bürgerkrieg verzehrte sich selbst, wie alle Bürgerkriege es thun.

Ich lernte Georg Herwegh im September 1841 in Zürich kennen. Damals war er in seiner äußeren Erscheinung noch der „arme Poet“, in seiner Toilette noch ein wenig Bär. Es fehlte ihm das „Loch im Aermel“ nicht. Er war ziemlich still in großer Gesellschaft, aber blitzend in der Conversation unter vier Augen und dabei von einer gewinnenden Gutmüthigkeit. In der Tasche trug er damals Spinoza’s Ethik mit sich. Es überraschte mich nicht wenig, als wir einst an einem schönen Herbstmorgen eine lange Spazierfahrt auf dem Zürichersee machten und Herwegh die Ruder führte, daß er mich bat, im Lesen laut fortzufahren, wo er am Abend vorher stehen geblieben war. Es war der zweiunddreißigste Satz des ersten Abschnitts: „Der Wille kann nicht freie Ursache, sondern nur nothwendige genannt werden“. Ich gestehe es, die in ihrer Form trockene Darlegung des großen Pantheisten in der uns umgebenden größeren pantheistischen Natur interessirte mich sehr wenig. Die „Perlen träufelten“ von den „Rudern“, und ihr „Tönen von Ringen zu Ringen“, ihr endliches gestaltloses Versöhnen mit dem „Element“ machte mir den ganzen Pantheismus klarer als die mathematische Kette von Beweisen Spinoza’s es konnte. Beim Glase Bier unweit Neumünster, wo wir an’s Land gingen, wanderte die speculative Philosophie wieder in die Rocktasche, und der Dichter und Weltschmerzler trat wieder in den Vordergrund in seiner ganzen idealistischen Natur.

Bald darauf machte Herwegh eine Reise nach Paris, besuchte Börne’s Grab und schloß intime Freundschaft mit Heinrich Heine, hingerissen von „dessen unwiderstehlicher Liebenswürdigkeit“, wie er mir selbst erzählte. Er kehrte von Paris mit einer feinen Außenseite zurück; sein Geist war voll der widersprechendsten Richtungen, welche in der Seinestadt damals .Mode waren. Der Socialismus spielte darin keine Nebenrolle. Das melodramatisch ergreifende Gedicht „Die kranke Liese“ im zweiten Theile der „Gedichte eines Lebendigen“ ist ein auf dem Pariser Pflaster gereifter Vorwurf. Die naive Schwabennatur erlag der chaotischen Weltstädterei, und ein wunderbares Gemisch von Haß und Liebe für Paris, eine etwas petrolös angehauchte Weltstimmung zeigte sich schon damals. Die bittern, obschon selbstverschuldeten Erfahrungen in Deutschland, seine in Zürich bald darauf folgende Ausweisung, in welche unter vielen anderen Deutschen auch ich hineingerissen wurde, vollendeten den Proceß der Gemüthsverbitterung, und jedesmal, wenn ich in Zwischenräumen mit Herwegh zusammentraf, hatte er ein neues heroisches Mittel in petto, um den Lazarus Menschheit von seinen Wunden zu heilen. Die meisten dieser Mittel waren nach dem Recepte des Bären, welcher seinem schlafenden Herrn die Fliege von der Stirn jagen wollte und sich, in Ermangelung des Steins der Weisen, dazu eines schweren Feldsteins bediente.

Aber – ich komme immer wieder darauf zurück – jene seltsame Zeit, die weder Fleisch noch Fisch war, erklärt das Alles, wenn sie es auch nicht rechtfertigen kann. Herwegh war zu lange das verzogene Kind der theoretischen Revolution gewesen, um im praktischen Leben nicht ihr ungezogenes werden zu müssen. Dazu die, was wirkliches Arbeiten betrifft, etwas träge Natur, der hieraus folgende Müßiggang, der ja aller möglichen Dinge Anfang ist, ein Wollen, welches sich in Ermangelung von Können, im periodischen Sensationmachen gefiel, das aber, hinter den Thatsachen der Zeit zurückgeblieben, meistens spurlos vorüberging – das Alles bewirkte, daß der Mitwelt von dem schönen Dichtergenius wenig mehr bekannt geblieben ist, als einige politische und literarische Donquixoterien. Andere Leute haben sie auch begangen, aber sie konnten sie durch rastloses Arbeiten vergessen machen. Bei Herwegh dienten sie seinen Gegnern als Anhaltspunkte, und der Dichter mußte die Zeche bezahlen, wenn der Politiker und Mensch stolperte. Das Echo auf den Namen Herwegh antwortete zuletzt nicht mehr mit den „Gedichten eines Lebendigen“, sondern mit schreiendem Hinweis auf diesen oder jenen Streich, den er als Politiker und Mensch geführt hatte und meiner festen Ueberzeugung nach nicht geführt haben würde, wenn die poetisch naive Grundanlage seines Naturells nicht im schönsten Blühen erstickt worden wäre. – –

Herwegh ist todt – einst von Hunderttausenden auf den Schild gehoben und vergöttert, nur von Wenigen beweint, ein Meteor auf dem Wege zu den Sternen, in den Boden der abstractesten Parteialltäglichkeit gefallen. Aber trotz alledem war Herwegh ein Dichter, vollendet in der Form, berauschend durch die Gedanken, magnetisch fesselnd durch die Plastik und das Colorit seiner Gebilde. Jetzt, da er todt ist, werden die Parteizeitungen wohl weniger Anstand nehmen, den Dichter der Vergessenheit zu entreißen. Der strengste Richter darf ja jetzt, unbeschadet seiner Regulative, die Person von der Sache trennen. Wir schlagen uns ja nicht mehr. Der Soldat im Kriege begräbt seinen Feind mit militärischen Ehren und zergliedert nicht die individuellen Fehler und Schwächen desselben. Er begräbt in ihm den Kämpfer.

Und somit dürfen auch wir ohne jeden menschlich schwachen Hintergedanken dem Dichter auf den Leichenstein schreiben:

„Ein unvollendet Lied sank er in’s Grab;
Der Verse schönsten nahm er mit hinab.“

W. Marr.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 320. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_320.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)