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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


sich hinstellen und liebevoll betrachten könne. Wollte er das Bild in sein Gedächtniß zurückrufen, so trat ihm sogleich immer der leere Rahmen vor Augen, und es gelang ihm nicht, ihn auszufüllen. Nur manchmal, wenn er gar nicht absichtlich seine Gedanken darauf richtete, blitzte es vor ihm auf wie eine Lichterscheinung, und er wußte dann, daß Juliette ihm zugelacht hatte, wie damals, als er zuerst von ihrem Blick gebannt war. Er empfand in solchen Momenten einen stechenden Schmerz, und es folgten darauf melancholische Stunden, in denen er sich selbst unerträglich vorkam.

Er hatte sich mit Eifer dem Geschäft gewidmet, um zur Grillenfängerei möglichst wenig Zeit zu behalten. Seiner gesunden Natur widerstand dieses nachgiebige Versenken in eine mißmüthige Stimmung, die nur erschlaffend wirken konnte. Er hatte gefühlt, daß unausgesetzte Thätigkeit von früh bis spät ihn am besten dagegen waffnete, und sich deshalb Anstrengungen zugemuthet, die sonst dem Chef eines großen Handlungshauses erspart bleiben. Die ödeste Zahlenarbeit nahm er mit Vorliebe auf sich; weite Geschäftsreisen brachten ihm die angenehmste Zerstreuung. Seine Mutter, so besorgt sie anfangs seiner Gesundheit wegen war, ließ ihn gewähren, da sie wohl merken mußte, daß kein Arzt ihm eine bessere Medicin verschreiben konnte.

Von der Familie Blanchard hatte er keine Nachricht erhalten. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, durch Geschäftsfreunde, die nach Paris reisten, Erkundigungen einzuziehen, aber er vermied alles, was wieder einen Verkehr hätte anknüpfen können. Auch im Hause sprach er nie über seine Erlebnisse in Frankreich. Nicht einmal über den Erfolg seiner Brautfahrt hatte er selbst der Mutter Bericht erstattet, sondern sie kurz an den Onkel verwiesen. Kam einmal die Rede auf den Krieg, so nahm er gar keinen Theil daran oder entfernte sich aus der Gesellschaft. Es galt den Familienangehörigen bald für ausgemacht, daß er an die Vergangenheit gar nicht erinnert zu werden wünschte, und so legten sie sich denn mit zarter Rücksicht Schweigen auf.

So hatten sie ihm auch, ohne daß es dieserhalb einer Verabredung bedurfte, verschwiegen, daß vor einiger Zeit, als er gerade auf einer Geschäftsreise abwesend war, Victor Blanchard die Stadt passirt und der Commerzienräthin und Onkel Helmbach Besuche abgestattet hatte. Es hatte sie nicht wenig überrascht, aus seinem Munde zu erfahren, daß er den Abschied genommen und nun nach Rußland reise, um bei einer von Franzosen gebauten und geleiteten Bahn die Stelle eines Ingenieurs zu übernehmen, die seinen Neigungen zusage. Er hatte sich nur einen ganz kurzen Aufenthalt gegönnt und über sein elterliches Haus gar nicht gesprochen. Warum sollte man Arnold beunruhigen?

Nach diesen zwei Jahren nun schien wirklich sein Gemüth wieder ganz frei. Er konnte im Familienkreise recht heiter sein und floh auch die Gesellschaft nicht mehr. Der Umgang mit Cousine Clara war der herzlichste und unbefangenste. Seine Mama konnte wieder daran denken, ihre alten Pläne aufzunehmen, und Onkel Helmbach, dem sie sich in einer vertraulichen Stunde eröffnete, meinte zustimmend: er habe es ja gleich gesagt, Kranken dieser Art müsse man nicht in den Weg treten. Eine unglückliche Liebe sei ja in der Familie etwas ganz Unerhörtes, und wenn Arnold in Folge wirklich ganz ungewöhnlicher Umstände auch ein wenig von den alten Traditionen abgekommen wäre, so könne er doch unmöglich so ganz aus der Art geschlagen sein, daß er sich nicht wieder in sich selbst zurecht finde. Wenn er sein Clärchen nicht zur Frau haben wolle – darum keine Feindschaft; aber an eine vernünftige Heirath müsse er denken, so oder so. Es sei die höchste Zeit für den jungen Menschen.

Die Frau Commerzienräthin versuchte es nun erst wieder mit schüchternen Andeutungen, harmlosen Neckereien, allgemeinen Sentenzen, die auf den besonderen Fall passen und auch nicht passen konnten. Da Arnold nicht auswich und wohl gar mit einem Scherz erwiderte, der wie eine Herausforderung zu weiterem Vorgehen klang, wurde sie dreister und erleichterte an einem Sonntag Abend, als die Verwandten sich entfernt hatten, ihr mütterliches Herz gründlich. Zu ihrem frohesten Erstaunen hörte Arnold sie ganz gelassen an und entgegnete darauf ohne jede Erregtheit: „Ich weiß, Mutter, daß ich zum Junggesellen nicht tauge. Ein solider Kaufmann braucht eine Frau für sein Haus, und ich bin ja auf dem besten Wege ein solider Kaufmann zu werden. Es ist gleich, ob ich heute oder über’s Jahr wähle; ich werde immer nach Grundsätzen wählen, zu denen das Herz keine Beziehung hat. Das Liebste ist mir, wenn ich jeder Wahl überhoben bin. Cousine Clara ist ein ebenso gutes wie hübsches Mädchen; sie wird die vortrefflichste Frau werden. Sie kennt alle meine Eigenheiten, und was die Hauptsache ist, auch meine Schicksale; sie weiß, daß ich sie nicht liebe, wie ich das Wort verstehe. Genügt ihr das freundschaftliche Gefühl, das ich aufrichtig für sie hege, so weiß ich mir in meiner Lage keine bessere Lebensgefährtin zu wünschen. Nur verlangt nicht, daß ich selbst sie befrage. Was ich ihr sagen müßte, könnte sie nur befangen und unruhig machen. Bringt die Angelegenheit mit ihr in Ordnung! Bin ich ihres Jaworts sicher, so will ich um ihre Hand anhalten. Bist Du mit mir zufrieden?“

Das war reichlich so viel, wie die Commerzienräthin selbst bei dem kühnsten Glauben an ihre mütterliche Beredsamkeit und an die Unfehlbarkeit ihrer Gründe erwarten durfte. Sie dankte ihrem „guten Sohne“ mit Thränen der Rührung in den Augen. Er erklärte sich bereit, dem Mädchen, das sie für ihn gewählt, die Hand zu reichen – das war ihr Alles. Was er sonst noch sagte, wie er seinen Entschluß motivirte, darauf hörte sie kaum. „Es ist ihm gar nicht Ernst mit seiner Gleichgültigkeit,“ dachte sie bei sich; „er redet sie sich nur ein, um sich vor sich selbst zu rechtfertigen, wenn er seiner Herzensthorheit nun für immer absagt. Sind sie nur erst Mann und Weib, findet das Andere sich; sie ist viel zu hübsch und liebenswürdig, um ihn bei so nahem Umgange kalt zu lassen, und er ist viel zu gutmüthig, um seine Frau kränken zu können. Es wird da nichts zu befürchten sein.“

So vollkommen beruhigt, machte sie sich sofort an’s Werk. Onkel Helmbach war ja schon gewonnen; die vereinten Bemühungen und Vorstellungen Beider mochten wohl auch bei Clärchen alle Bedenken unschwer niedergeschlagen haben. Gewiß ist, daß nur wenige Tage vergingen, bis die glückliche Frau ihrem Sohne die Nachricht brachte, die Sache sei ganz in Ordnung und er habe nur nöthig, in Frack und weißer Binde bei Clärchen anzuklopfen, um als Bräutigam zurückzukehren. Er bemühte sich, diese Mittheilung wieder mit aller Gelassenheit aufzunehmen, aber es gelang ihm doch nicht, die etwas verwunderte Frage zurückzuhalten, ob denn Clärchen gar keine Einwendungen erhoben habe? „Ach, sie hat ein Bischen geweint,“ antwortete die Mama, „und sich mit Zweifeln geplagt, ob sie Dich werde glücklich machen können, wie sie’s von Herzen wünschte – das ist bei jungen Mädchen einmal nicht anders. Schließlich aber hat sie gesagt, sie wolle Dir ihr Jawort geben, wenn Du’s zu fordern kämst. Du bist also ganz sicher, Dir keinen Korb zu holen.“

So war’s entschieden. Arnold stützte den Kopf in die Hand und träumte eine Weile vor sich hin. Wie Schattenbilder zogen die Erinnerungen der Kriegszeit an seinem geistigen Auge vorüber, kenntlich und doch ohne feste Gestalt. Er wollte sie halten, aber sie verschwammen immer nebelhafter. Es war zuletzt nur noch der Maire, der wie aus einem Versteck mit den schwarzen Augen hervorblinzelte – eine abscheuliche Visage. Arnold stand auf, trat an’s Fenster und sah in den hellen Sonnenschein hinaus. „Es muß ein Ende haben mit diesem Spuk,“ sprach er halblaut vor sich hin; „man muß das Leben ganz so prosaisch nehmen, wie es nun einmal ist – und wie man’s verdient, wenn man’s überhaupt erträgt. So mancher, der sich eine Kugel durch den Kopf jagte, hat nichts Schwereres erfahren als ich. ‚Narrheit!‘ sagen die klugen Leute. Mag sein! Aber größere Narrheit ist’s jedenfalls, sich klug zu schonen und dann doch nicht vergessen zu können. Abgemacht! –“

Als ob keine Minute Zeit zu verlieren wäre, kleidete er sich sofort um. Als er fertig war und sich im Spiegel musterte, spielte ein recht bitteres Lächeln um seine Lippen. „Wie bleich Du bist, lieber Freund!“ nickte er seinem Bilde zu. „Du solltest Dich schminken. Von einem Bräutigam kann man doch wenigstens am ersten Tage seines jungen Glückes rothe Backen verlangen.“ Er zupfte die weiße Cravatte zurecht und prüfte die Handschuhe. „Es ist lächerlich – bei seiner Cousine …! Ah! gerade da. Man kann einer Sache, die keinen Inhalt hat, nie genug Form geben.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 312. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_312.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)