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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Innersten empört über eine Behandlung, die das öffentliche Interesse zum Deckmantel selbstsüchtiger Motive nahm, verließ er die Mairie.

Die gesetzte Frist war noch nicht verstrichen, als ihm auf seinem Zimmer ein versiegeltes Päckchen übergeben wurde, dessen Empfang er zu bescheinigen hatte. Es enthielt seine Brieftasche und ein Schreiben des Herrn Credillon, der in phrasenreichem Stil die Belästigung entschuldigte, die den Reisenden nicht habe erspart werden können. Der Inhalt der Papiere sei ganz unschuldig befunden, und ihrer sofortigen Abreise stehe nun nichts weiter im Wege. Wenige Minuten darauf brachte der Hôtelbesitzer die Rechnung. Er habe gemessenen Befehl … Sein Achselzucken schloß den Satz.

„Je eher, je lieber!“ rief Onkel Helmbach. „Nur fort – fort – fort!“

Arnold hatte die Brieftasche geöffnet und einen flüchtigen Blick in die verschiedenen Abtheilungen geworfen. Er wußte ja am besten, daß seine Aufzeichnungen und Einlagen nichts enthielten, was selbst unter der schärfsten Polizeibrille als ein schwarzer Punkt erscheinen könnte. Welchen denkbaren Grund sollte man gehabt haben, ihm irgend etwas vorzuenthalten? Und doch schien er einen Gegenstand zu vermissen. Er wiederholte die Durchsicht oberflächlich, schob dann mit eiligem Finger Blatt nach Blatt zurück, warf endlich den ganzen Inhalt auf den Tisch und schüttelte die Tasche aus.

„Juliette’s Bild ist nicht dabei,“ rief er, in den Papieren wühlend.

Onkel Helmbach packte schon seinen Koffer. „Ist’s möglich?“ sagte er ohne sonderliche Erregung.

Arnold sprang auf: „Ueberzeuge Dich selbst! Das Bild fehlt.“

„Aber wer sollte –“

„O, der Schurke! Er ist der Dieb.“

„Wer, wer?“

„Credillon. Das war für ihn ein interessanter Fund. Aber der Bube soll mir –“

„Lärme nicht, lieber Junge! Wir machen uns wieder verdächtig. Was kann Dir auch noch ferner das Bild sein, wenn Du nicht das Mädchen –“

„Aber ich habe versprochen, es in ihre Hand zurückzugeben,“ rief Arnold, im Zimmer auf- und ablaufend. „Nein, er muß es zurückgeben – muß, muß!“

Er eilte auf die Mairie. Herr Credillon that sehr verwundert, ihn nochmals bei sich zu sehen. „Sie haben ja doch Ihre Brieftasche empfangen, mein Herr …“

„Aber nicht mit Allem, was darin war.“

Der Beamte warf sich in die Brust. „Sie wollen doch nicht etwa behaupten –?“

„Ich will behaupten, daß eine kleine Photographie fehlt.“

„Ach, eine so gleichgültige Sache –“

„Sie ist mir nicht gleichgültig, mein Herr, und – Ihnen vielleicht auch nicht.“

Die schwarzen Augen blinzelten unruhig unter den gesenkten Lidern. „Was stellte denn die Photographie dar?“ fragte er mit spitzbübischem Lächeln.

„Da Sie die Brieftasche durchsucht haben, wissen Sie es so gut wie ich,“ antwortete Arnold aufgebracht. „Das Bild einer jungen Dame, die Ihnen nicht unbekannt ist.“

„So – so! das Bild einer jungen Dame – ich habe darauf in meinem amtlichen Eifer gar nicht geachtet. Ich kann weder sagen: das Bild ist dagewesen, als ich auf die Brieftasche Beschlag legte, noch: es ist nicht dagewesen. Ich fand sie übrigens in der Rocktasche, und der Rock hing frei im Zimmer; das Zimmer war unverschlossen –“

„O, wie können Sie glauben, daß Jemand vom Hôtel –“

„Ja, wie können Sie glauben, daß Jemand von der Mairie –? Uebrigens unmöglich ist nichts in der Welt. Die Brieftasche ist durch viele Hände gegangen – das kleine, anscheinend ganz werthlose Bild kann Dem oder Dem gefallen haben. Eine Untersuchung würde mich und Sie nur lächerlich machen.“

„Ich fordere sie, mein Herr.“

„O – o – o! welche Weiterungen einer solchen Kleinigkeit wegen.“ Der Maire faßte in die Tasche und zog eine Geldbörse hervor. „Um sie zu vermeiden, bin ich, ohne eine Verschuldung meinerseits anzuerkennen, gern zur Entschädigung bereit. Ein Franken genügt für das Blättchen, nicht wahr?“

Dem Deutschen schoß das Blut in’s Gesicht. „Mein Herr, Sie sind ein …“ Die schwarzen Augen schienen ihn durchbohren zu wollen; er sprach die Beleidigung nicht aus. „Es giebt noch Mittel und Wege, Sie zu zwingen, mir mein Eigenthum zurückzugeben.“

Der Maire lachte laut auf. „Wagen Sie’s doch, einen Beamten der Republik einer Entwendung zu bezichtigen, ohne mit Beweisen gerüstet zu sein! Lächerlich – ha, ha, ha – lächerlich!“

Rose warf zornig die Thür hinter sich in’s Schloß. Die Schreiber im Vorzimmer richteten, erschreckt über solche Dreistigkeit, wie auf Commando die Köpfe auf und schossen ihm grimmige Blicke nach.

Er begab sich in’s Hôtel der deutschen Gesandtschaft. Ein alter Secretär ließ sich recht gutmüthig die Beschwerde vortragen. „Dabei wird schwerlich etwas zu thun sein,“ sagte er dann nach einigem Besinnen. „Wäre der Maire selbst nicht betheiligt, er würde wahrscheinlich mit viel Ostentation eine Untersuchung in Scene setzen, um uns von der Gerechtigkeitsliebe der französischen Behörden zu überzeugen. Nun wird er sich hüten, sich selbst zu bezichtigen, und seine Vorgesetzten werden ihn gegen unsere anscheinend beleidigenden Angriffe in Schutz nehmen. Die Sache ist für Sie recht ärgerlich, das gebe ich zu, aber was kann Ihnen am Ende so viel an dem kleinen Bilde gelegen sein, das Sie gewiß längst Ihrem Gedächtnisse eingeprägt haben!“

„Es ist nicht der an sich so geringfügige Gegenstand,“ entgegnete Rose ärgerlich, „es ist die Unverschämtheit dieses brutalen Menschen, der sich, einem Fremden, einem Deutschen gegenüber, glaubt erlauben zu dürfen …“

„Ja, ja, ja! das ist eben das Aergerliche,“ bemerkte der Secretär. „Aber was wollen Sie? Glauben Sie, daß wir einer Photographie wegen – und knüpften sich für Sie auch noch so merkwürdige Erinnerungen daran – diplomatische Noten wechseln können? – Oder sollen wir, wenn man uns wiederholt, was Sie schon gehört haben, von Neuem Krieg anfangen?“ setzte er lächelnd hinzu.

„Einem Engländer hätte das nicht passiren können,“ stieß der junge Mann unmuthig heraus.

„O doch – doch!“ beruhigte der Herr Hofrath. „Die Engländer sind praktische Leute; sie fangen nichts an, was sie nicht durchführen können, und für eine Visitenkartenphotographie –“

„Ich weiß genug,“ schloß Arnold. – –

Die nächste Nacht durchwachte er neben Onkel Helmbach im Eisenbahncoupé. –


Zwei Jahre waren seitdem vergangen.

Endlos lange Zeit für Arnold Rose, der mit einem Leben nichts anzufangen wußte, dem seine besten Hoffnungen abgestorben waren. Sie waren todt für ihn und begraben in seinem Herzen. Er glaubte nicht mehr daran, daß ihn Beharrlichkeit doch noch zum Ziele führen könne, daß die Zeit sein Geschick günstig wenden werde. Er hatte sich gesagt, der Traum seines Glückes sei zu Ende, ganz zu Ende, und es nütze nicht, wieder die Augen zu schließen, um ihn zurückzurufen. Vielleicht hatte er’s trotzdem versucht und nichts erreicht, als jenen halbwachen Zustand, der einem Rausche zu folgen pflegt und in dem man sich über seine eigene Verworrenheit ärgert. Nein! lieber ganz nüchtern die Dinge anschauen, wie sie nun einmal wirklich sind, alle Selbsttäuschungen über Bord werfen, auf der langweiligen Heerstraße des Lebens hinziehen mit den Tausenden, die nie einen Schritt seitwärts gewagt haben.

Wäre ihm Juliette’s Bild geblieben –! Er hatte sich in den Aberglauben so fest hineingeredet, es sei sein unerklärlicher Zauber, der ihn an das schöne Mädchen fesselte, daß er wohl jetzt auf die nicht weniger abergläubische Aufregung verfallen konnte, mit dem Verlust des Bildes sei auch jener Zauber gebrochen, so daß er nun plötzlich ganz klar sehe, wie unmöglich die Erfüllung seiner Wünsche sei. Es kam ihm vor, als verwische sich in seiner Erinnerung die Gestalt der kleinen Französin ganz überraschend schnell, nun er nicht mehr das Blättchen vor

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 311. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_311.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)