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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Das sollte aber nicht so leicht werden, als wir hofften. Malwine kam gleich einem Sonnenstrahl, einer farbenprangenden Blume in unser stilles ehrbares Haus hinein; überall machte sich zwischen ihr und uns eine so weitgehende Verschiedenheit geltend, daß sich das Zusammenleben mit ihr für beide Theile zur Qual gestaltete.

Als ich sie zum ersten Male den Schulkindern vorstellte, da wollte mir fast die Geduld vergehen. Sie hielt es eine Stunde lang ziemlich ruhig aus, den kleinen Geschöpfen auf der Schiefertafel ein A und ein B. vorzumalen; die Kinder selbst schienen auch von der neuen ‚Tante‘ ganz entzückt, aber schon sehr bald hörte ich in der Gegend ihres Platzes ein unbefugtes Flüstern und Kichern, und als ich dann mit schlimmen Ahnungen nach dem Rechten sah, da zeigte mir die Cousine eine ganze Reihe von Zeichnungen, welche ihre gewandten Finger geschaffen. Das hübsche, von braunen Locken umwallte Gesicht blickte in lachender Fröhlichkeit zu mir empor, als ich so voll Entsetzen auf diese Thorheit herabschaute. Springende Mäuschen, ein Storch, dem der Frosch davonhüpfte, und eine Unzahl von anderen Thieren und Gestalten – aber kein A und kein B. Ich wußte im ersten Augenblicke vor Verdruß nicht, was ich sagen sollte.

Visionen von dem Erscheinen erzürnter Mütter und dem Ausbleiben des Quartalgeldes drängten sich schwarz und drohend zwischen mich und die lachende Cousine. Ich hörte kaum, daß sie leise, wie entschuldigend, sagte: ‚Es war so langweilig, Du und die Kinder müssen doch auch zeichnen lernen. Sieh nur, wie gerne sie mich leiden mögen!‘

Ich war ganz fassungslos. ‚Geh fort, Malwine. Das – das muß überlegt werden,‘ versetzte ich.

Sie entfernte sich sogleich, aber am Abend kam die Sache wieder zur Sprache, und zwar in Hermann’s Gegenwart. ‚Tante,‘ rief das hübsche Kind, ‚Du bist auch so erschrecklich ernsthaft und griesgrämig wie eine wahre Großmama. Ich glaube, Du rechnest immer.‘

Mein Bräutigam lachte laut. ‚Das thut sie auch, Winchen,‘ rief er, ‚und Du würdest Dich um mich sehr verdient machen, wenn Du sie ein wenig heiterer stimmen könntest. Also Du Schelmin hast es gewagt, allerlei Allotria auf die ehrwürdige Schiefertafel Deiner Cousine zu malen? Was denn zum Beispiel?‘

Malwine stand auf und ahmte unter den possirlichsten Bewegungen die Sprünge eines Kätzchens nach, das auf der Mäusejagd seine ersten Studien macht. ‚Das war das Beste, Vetter,‘ rief sie, ‚die Kinder hätten so gern laut gelacht, aber –‘

Ein komisch schmollender Blick zu mir hinüber vollendete den Satz,

‚Aber der Drache Griesgram versperrte den Eingang der Höhle,‘ lachte Hermann, ‚und die armen Elfen waren gefangen, konnten nicht hinaus in den grünen Wald und ihre Märchenreigen beginnen. Du mußt schon künftig für mich Deine Neckereien malen, kleiner Kobold; ich werde Dir’s nicht verkümmern, weil Du doch immerhin selbst fast noch ein Kind bist.‘

Das Letztere sagte er sehr ernsthaft, aber mit unverkennbarer Absichtlichkeit, mir gegenüber. Ich stand gerade am Plättbrett und kehrte ihm daher den Rücken; er sah nicht, daß Thränen auf die Wäsche fielen.

Meine Mama mochte ahnen, was in mir vorging. Sie stand auf und küßte mich zärtlich.

‚Du hast Recht, Hermann,‘ antwortete sie. ‚Malwine ist noch ein Kind, und muß daher erzogen werden, wie alle Kinder. Ich wüßte nicht, wer dazu passender wäre, als eben Hanne, die seit ihrem zehnten Lebensjahr verstanden hat, wie eine Erwachsene zu denken und zu arbeiten. Ohne sie wäre die Schule nie das geworden, was sie factisch ist, eine Quelle des ehrenhaften Lebensunterhaltes für meine Tochter und mich – Hanne muß daher in ihrer eignen Angelegenheit durchaus selbst disponiren können.‘

Diesen Worten folgte ein längeres Schweigen. Gerade ich war am meisten verstimmt. Mama hatte mich vertheidigt; das that mir im Herzen weh – ich wußte nicht eigentlich, warum. In die Schule kam Malwine seitdem nicht mehr, aber auch bei anderen Arbeiten, welche man ihr übertrug, machte sie es nicht besser, als dort mit der Schiefertafel. Es mußte ihr eben Alles zum Vergnügen dienen und, was das Aergste war, sie gewann spielend überall die Herzen.

Einmal, als ich aus Hermann’s Laden die nöthigen Gardinenstoffe geholt, um zuzuschneiden und zu nähen, da verschwand Malwine aus dem Wohnzimmer, und als ich, ihrer Thorheiten wegen in steter Unruhe, fortging, um sie zu suchen, da traf ich sie vor dem Spiegel der kleinen Schlafkammer, auf einem Stuhle stehend, völlig als Orientalin costümirt. Sie hatte mit ihrer wunderbaren Geschicklichkeit den rothen französischen Kattun und den weißen Tüll derartig drapirt, daß ihr Schelmengesichtchen, wie aus Wolken heraus, in den Spiegel blickte. Bei meinem Anblick sprang sie erschreckt vom Stuhl und flüchtete zur Thür,

‚O Tante, nimm es nicht übel!‘ schmeichelte sie. ‚Mache kein so böses Gesicht! Sieh doch, steht mir nicht Dein Kattun zum Entzücken?‘

Mama öffnete neugierig die Thür, und so kam es, daß Hermann die ganze Geschichte mit ansah. Er lachte und fragte, ob die reizende Odaliske geneigt sei, mit ihm eine Cigarre zu rauchen. Malwine sprang eiligst zu ihm, und ich glaube wohl, daß sie den Scherz noch weiter ausgedehnt haben würde, wenn nicht Mama höchst ärgerlich dazwischen getreten wäre.

‚Du solltest Dich schämen, Malwine,‘ hörte ich sie sagen, ‚noch ist Dein Vater kaum seit zwei Monaten begraben, und Du hast ihn bereits völlig vergessen. Nimm den rothen Stoff fort! Er ist eine Beleidigung für Deine Trauerkleider.‘

‚In der That, Cousine,‘ fügte ich hinzu, sehr unangenehm berührt von dem Anblick der vielen Falten, welche meine Gardinen aufzeigten, ‚Du bist unglaublich kindisch für Dein Alter. Geh’ und nimm Dein Strickzeug! Heute hast Du noch keine zehn Maschen gemacht.‘

Malwine schälte sich hastig aus der Umhüllung der Orientalin heraus. Sie schluchzte leise, aber ohne zu antworten. Ich fand, daß sie nie hübscher gewesen war, als in dieser Verwirrung ihres ganzen Wesens. Hermann hatte bis jetzt geschwiegen, aber ich bemerkte mit Herzklopfen auf seiner Stirn jene Falten, welche die Augenbrauen herabzogen – das war ein Zeichen von Unmuth; ich kannte es genau.

‚Geh’ fort!‘ wiederholte ich leise.

Da aber räusperte sich mein Bräutigam. ‚Winchen,‘ sagte er, ‚und auch Du, Hanne – wie wäre es, wenn wir einen Spaziergang machten? Der Abend verbringt sich angenehmer im Freien, als hier drinnen in den engen Zimmern.‘

Ich erröthete vor Zorn. ‚Entschuldige, Hermann!‘ rief ich, vielleicht etwas rasch. ‚Ich habe zu thun.‘

‚Noch jetzt, nach dem Abendessen, Hanne?‘

‚Noch jetzt, Hermann!‘ versetzte ich trocken.

‚Ach – das thut mir leid. So komm’ denn, Winchen! Dein Strickzeug wird nicht einrosten bis morgen.‘

Das arme Kind stand verlegen mitten im Zimmer, ohne zu wissen, was es thun sollte. Die Thränen hingen noch an den Wimpern, während der Mund bereits wieder lächelte.

‚Tante – darf ich?‘ fragte sie mich schüchtern.

Wieder mischte sich Mama in scharfem Tone ein.

‚Kind, ich begreife nicht, weshalb Du Deine Cousine so beharrlich „Tante“ titulirst?‘ fragte sie. ‚Ich bin es, die Du so nennen solltest.‘

Malwine wurde purpurroth.

‚O bitte,‘ flüsterte sie verlegen, ‚ich will es nicht wieder thun. Es kam wohl, weil die Cousine so viel älter ist, als ich.‘

Hermann stand abgewandt und sah zum Fenster hinaus. Ich freute mich unsäglich, daß ihm mein Erschrecken in dieser Weise entging. War es doch, als habe die Bemerkung des ahnungslosen Kindes plötzlich einen Feuerbrand in meine Seele geworfen. Ja, ja, ich war viel, viel älter.

‚Setze Deinen Hut auf, Winchen!‘ warf Hermann in die verlegene Pause hinein. ‚Dort kommen Bekannte von mir, denen ich Dich vorstellen will; mach’ fort! Du darfst es.‘

Sie schlüpfte hinaus, wahrscheinlich weil sie der Versuchung, einen Spaziergang in größerer Gesellschaft zu machen, nicht widerstehen konnte. Als sich die Thür hinter ihr geschlossen, trat Hermann zu mir und wollte meine Hand erfassen, die ich ihm jedoch schnell entzog.

‚Hanne,‘ sagte er, ‚findest Du nicht, daß Ihr Beide, Mama und Du, dem armen Kinde gegenüber viel zu strenge seid? Mir däucht, Ihr laßt es Winchen bitter fühlen, daß sie eine unwillkommene Bürde ist.‘

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