Seite:Die Gartenlaube (1875) 296.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Juliette nicht weiter zu beunruhigen, wenn Sie sich überzeugen sollten, daß Sie bei den Eltern nicht zum Ziele gelangen können!“

„Was verlangen Sie von mir?“ fuhr Arnold auf. „Nie – nie werde ich vergessen –“

Victor ergriff seine Hand und drückte sie. „Das steht bei Ihnen. Sie empfinden heute so, und das kann mich nur freuen. Aber es handelt sich hier um etwas Anderes: um die Einwirkung auf Entschlüsse, die nicht gefaßt werden können ohne schwere Pflichtverletzungen. Was wollen Sie? Juliette ist ein Kind Frankreichs. Achten Sie die Rücksichten, die sie dieser Mutter zu schenken hat, wenn sie dem Manne ihrer Wahl folgt, noch so gering – sie werden auch in Ihrer Schätzung größere Bedeutung gewinnen müssen, wenn der berechtigte Widerspruch der leiblichen Eltern sie stärkt. Das Mädchen, das Ihnen in Feindesland folgte ohne den Segen von Vater und Mutter, könnte Ihnen, wie ich Sie kenne, unmöglich eine erwünschte Gattin sein. Und ich setze noch Eines hinzu: alle Ihre Liebe würde sich machtlos erweisen, ihr den Frieden zu geben, den das Glück braucht.“

Arnold war nicht befangen genug in seiner Leidenschaft, um die Wahrheit dieser Worte zu verkennen, die offenbar ein theilnehmender Freund sprach. Er erwiderte stumm den Druck der Hand, und Victor war mit diesem Zeichen der Zustimmung zufrieden. Beide traten nun in’s andere Zimmer zu Helmbach ein, der ein Glas Punsch präparirte, zur Stärkung, wie er sagte, wobei es eine offene Frage blieb, wer nach seiner Meinung derselben am meisten bedürfte. Der junge Officier suchte seinen deutschen Sprachschatz hervor, um den alten Herrn bei dem Gespräche zu betheiligen, das dadurch bald eine humoristische Wendung nahm. Man stieß an auf des blonden Clärchens Wohl, und Victor versicherte mit einem Blicke auf Arnold, daß er „gewisse Thorheiten“ ganz gut begreife und wahrscheinlich auch den Muth gehabt hätte, sie zu begehen, wenn er in Deutschland seinen Namen hätte besser zu Ehren bringen können. Wenn man freilich ein armer Gefangener sei, so müsse man sich den Appetit vergehen lassen, Eroberungen zu machen. Das war so scherzhaft gesagt, daß darauf im Ernste gar nicht zu antworten war. Man plauderte noch ein halbes Stündchen, bis der Hôtelwagen vorgefahren war; dann verabschiedete sich Victor von den deutschen Freunden mit einem deutschen „Glück auf!“ –

Onkel Helmbach hatte nach einer guten Nacht den Schreck des vorigen Tages so weit überwunden, daß er den Bitten des Neffen, ihn nach der Villa zu begleiten, nur schwachen Widerstand entgegensetzte. Er mußte wohl einsehen, daß er sich nicht fernhalten dürfe, nachdem sein Besuch einmal angemeldet worden. Nur bestand er noch darauf, daß man sich trotz der kurzen Strecke in den Wagen setze. Die beiden Herren warfen sich also in feinste Visitentoilette und machten sich auf den Weg – Arnold mit sehr schwerem Herzen. Es kam ihm, je mehr sie sich dem Hause näherten, immer unsinniger vor, so auf Freischaft zu gehen, und doch gab es keine vernünftigere Möglichkeit, sich zu erklären. Um einen Brief zu schreiben, hätte er keine weite Reise nötig gehabt.

Als sie durch den Vorgarten gingen, bemerkte Arnold, oben am letzten Fenster hinter der Gardine Juliette. Als er hinauf grüßte, zog sie sich eilig zurück. Es war ihm ein gutes Omen, sie vor seinem Eintritte in’s Haus gesehen zu haben.

Herr und Madame Blanchard warteten schon im Salon. Sie empfingen die Gäste mit ausgesuchter Höflichkeit und doch zugleich mit kühler Zurückhaltung. Es war wunderlich, wie Onkel Helmbach ihre feierlichen Anreden mit verlegenem Lächeln entgegennahm und mit ein paar angelernten Phrasen beantwortete, die nur sehr unvollkommen paßten. Ein Franzose hätte sich umgekehrt in deutscher Gesellschaft schwerlich so gedrückt gefühlt.

„Mein Onkel ist entzückt von der freundlichen Aufnahme, die er in diesem mir so werthen Hause findet,“ dolmetschte Arnold, „und bedauert nur, Ihnen nicht selbst seine Gefühle nach Wunsch ausdrücken zu können.“ Er wandte sich an Helmbach und sagte mit demselben hochtönenden Pathos, aber in seiner Muttersprache: „Thu’ mir die Liebe, Onkel, und nicke zu Allem, was ich sage, mit dem Kopfe! Ich werde dafür sorgen, daß Dein liebenswürdiges Lächeln von unseren Wirthen auf’s Günstigste ausgelegt wird.“ Der alte Herr nickte und lächelte. „Wären wir nur erst zur Thür hinaus,“ dachte er bei sich.

Madame Blanchard richtete wieder eine lange und sehr lebhafte Rede an ihn. Sie dankte für die Gefälligkeiten, die er ihrem Sohn erwiesen und die ihr das ganze Leben lang unvergeßlich bleiben würden.

„Er hat sich bei Ihnen so wohl gefühlt,“ setzte ihr Mann hinzu, „daß er fast verlernt hat, ein guter Franzose zu sein.“ Er zog dazu ein verdrießliches Gesicht.

„Bin ich nicht bei Ihnen ein halber Franzose geworden?“ warf Arnold ein. „Zum halben Deutschen fehlt bei Victor noch viel. Nicht wahr, Onkel?“

Helmbach nickte. „Wo ist denn aber das Mädchen?“ fragte er leise; „ich wäre doch begierig –“

„Nenne nur getrost ihren Namen, Onkel, damit ich anknüpfen kann. Ich muß doch ein Stichwort haben.“

„Nun, ich meine Fräulein Juliette.“ Sein glattes Gesicht wurde rosig, wie von der Morgenröthe angehaucht, als er das Losungswort aussprach.

„Du bist zum Küssen, Onkel,“ rief Arnold. „Sie hörten da einen Namen nennen, Madame,“ wandte er sich an die Mama, „der Ihnen auch ohne meine Erklärung die Wünsche meines Onkels deutlich gemacht haben wird. Es würde ihm so viel Ehre wie Vergnügen sein, Ihrem Fräulein Tochter vorgestellt zu werden, von der er durch mich so viel Gutes gehört hat und für die er seinem Neffen zu Liebe schwärmt. Nicht wahr, Onkel, ich sage nicht zu viel?“

Der alte Herr, der wenig davon verstanden hatte, nickte eifrig. „Aber so schüttele doch den Kopf!“ bedeutete der Neffe rasch. Auch das geschah.

„Es thut mir unendlich leid,“ bedauerte Madame Blanchard, „mich selbst des Vergnügens beraubt zu sehen, den würdigen Herrn mit meiner Juliette bekannt zu machen. Sie ist seit gestern unwohl und nicht zu vermögen, das Zimmer zu verlassen. Ich bitte, sie zu entschuldigen.“

„Ich bitte, sie zu entschuldigen,“ wiederholte Herr Blanchard.

Arnold biß sich auf die Lippe, um ein Gefühl von Zaghaftigkeit schneller zu überwinden, das sich in diesem Augenblicke seiner bemächtigte. Das Gespräch war glücklich auf das Mädchen geleitet und durfte sich von diesem Gegenstande nicht mehr entfernen. „Sollte ein besonderer Anlaß …“ sagte er schüchtern ausholend. „Ich hatte gestern, ehe ich bei Ihnen eintrat, die Freude, Fräulein Juliette – im Garten vor Ihrem Hause – begrüßen zu können, und ich bemerkte nicht …“

„Sie haben Juliette schon gesprochen,“ fiel Blanchard überrascht ein. „Aber davon hat sie uns ja kein Wort gesagt.“ Er sah dabei fragend seine Frau an.

„Vielleicht hat Ihr plötzliches Kommen sie erschreckt,“ bemerkte sie, zur Erde blickend. „Das arme Kind hat so schwache Nerven, und Ihre Person – das ist ja so natürlich – mußte bei ihr Erinnerungen erwecken, die …“

„Die auch stärkere Nerven angreifen können,“ ergänzte der Herr Gemahl, die Hand in die Weste steckend.

„Ich hoffe, Sie täuschen sich,“ sagte Arnold, „sich im Sessel vorbeugend. „Ich bin eitel genug, zu glauben, daß mein Anblick dem Fräulein nicht so schreckenerregend war. Wir schieden im letzten Frühjahr, was auch im Augenblicke störend einwirkte, als gute Freunde, und es ist, wie ich annehmen darf, in der Zwischenzeit Nichts geschehen, was dieses Band gelockert haben könnte. Auf meiner Seite hat es sich nur noch mehr befestigt, und wenn Sie aufrichtig sein wollen und können, meine verehrte Madame, so werden Sie mich vielleicht auch darüber beruhigen können, daß Juliette’s gute Meinung von mir sich nicht geändert hat.“

Madame Blanchard beschäftigte sich damit, die Spitzen ihrer Manschette unter einem goldenen Armbande vorzuzupfen, das zu weit auf die Hand herabgefallen war. Die Finger der schmalen Hand zitterten dabei merklich; der Hausherr richtete sich im Stuhl auf und ließ einen knurrenden Ton vernehmen, der Arnold wie fernes Gewittergrollen in’s Ohr klang. Onkel Helmbach mußte wohl begreifen, daß man bei den Präliminarien der wichtigen Verhandlung angelangt war, bei der er Zeuge sein sollte; ihn überfiel plötzlich ein Husten, der ihn zwang das Taschentuch vorzuziehen und sich damit abgewandt die Augen zu wischen. Dann herrschte eine Secunde lang tiefes Schweigen – die Stille vor dem Sturme.

(Fortsetzung folgt.)
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 296. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_296.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)