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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


nicht mehr, aber einen großen Vortheil hatte es entschieden: es verzettelte den jugendlichen Geist nicht in dem Nebeneinander von so vielen und disparaten Dingen, wie es heute betrieben wird. Die Stoffe waren einfacher und gleichartiger; sie ließen dem Geiste die Fähigkeit sich zu concentriren, und beförderten dadurch auch die Bildung des Charakters. Und ich habe immer gefunden: wer die classischen Studien gründlich getrieben hat, so daß sie nicht blos zum schulmäßigen Nothwerk, sondern zur Lust des eigenen, freudigen Schaffens geworden sind, der eignet sich später mit Leichtigkeit von den realen Wissenschaften dasjenige an, was zur Bildung nothwendig ist.

Mit demselben Eifer, wenn auch nicht mit demselben Erfolge – denn das Latein blieb immer die Krone – ergriff ich im zehnten Lebensjahre das Griechische und im zwölften das Hebräische. Das Griechische mit dem üppigen Reichthume seiner Formen machte mehr Schwierigkeit, als die knappe Feldherrnsprache Roms. Aber vollends diese Zeichen und Hauche und verwickelten Accente alle, mit denen die Worte belastet werden, meistens willkürliche Erfindungen eines späten Schriftgelehrtenthums, sind doch eine schwere und, wie mir scheint, unnöthige Plage des Lernenden. Es muß mir schwer eingegangen sein. Wenigstens sind Alpha, Beta, Gamma, Delta (die Anfangsbuchstaben des griechischen Alphabets), vom Haselstocke auf die Finger aufgezählt, die einzige Strafe, deren ich mich aus den fünf Jahren erinnern kann, während ich manches Gröschleins gedenke, das der Lehrer zum Lohne für eine gelungene Arbeit aus dem Beutel nahm, mit der Weisung, mir etwas Gutes zu gönnen. Von griechischen Schriftstellern wurden besonders Isokrates und Lucian mit Vorliebe getrieben. Im Hebräischen lasen wir die leichteren geschichtlichen Partien aus dem alten Testament und übersetzten wöchentlich ein deutsches Stück in die Sprache des Morgenlandes. Die Meisten von denjenigen, welche heute den gleichen Bildungsweg betreten, werden sich wundern, wie weit die Jugend jener Zeit auf der Stufe des unteren Gymnasiums geführt worden ist. Aber wir waren selbst schon Kinder einer sinkenden Periode. Wenn ich die Hefte meines ältesten Bruders, der zwölf Jahre früher auf denselben Bänken gesessen hatte, durchsah, war ich beschämt, die aufgegebenen Stylübungen von einer freiwilligen Zugabe griechischer Distichen begleitet zu sehen, während ich es nur noch zu lateinischen Versen brachte.

Daß bei dieser Lernweise für Erholung und Vergnügungen wenig abfiel, ist selbstverständlich. Auch die zweimaligen kurzen Ferien benutzte ich meist zum Studiren. Die früheren Freuden in Feld und Wiese, im Walde und am Bache hatten um so weniger Reiz für mich, als der Vater seitdem in eine andere Gemeinde übergesiedelt war, in welcher ich die Menschen nicht kannte. Ich durchstöberte immer von Neuem Papas freilich ganz veraltete Bibliothek, aus der ich doch immer wieder Etwas aufspürte, was meine Neugierde reizte. Zum Glück hatten sich auch Schiller’s „Räuber“ in dieselbe verirrt. Das verschlang ich und declamirte daraus im Kämmerlein, wie auf dem freien Felde. Aber das Sentimentale darin ergriff mich mehr, als das Starke, ich schluchzte mit Amalie und seufzte mit Karl.

Ein wahres Fest dagegen war alljährlich der „Maitag“, der die ganze Jugend der Stadt, die sonst so schroff geschiedene deutsche und lateinische, zu Einer erquickenden Feier vereinigte. Den Arm mit Bändern geschmückt, grünes Reis auf dem Hute, sammelte man sich um zehn Uhr erst in der Kirche, wo der zweite Geistliche ein Jubelwort zum Herzen sprach, dann ging’s hinaus in den Wald, der durch eine große Lichtung und angebrachte Rasenplätze ein für alle Mal für diesen Zweck hergerichtet war. Unter den Bäumen waren Tische und Bänke aufgeschlagen. Hier ließen sich die Familien nieder und reichten den Kindern die nöthigen Erquickungen. Man tanzte und spielte nach freier Gruppirung; da war kein ewiges Commandiren und Abzirkeln, wie ich es später bei Jugendfesten gesehen habe, die für Lehrer und Anordner, wie für die Jugend mehr eine Anstrengung und Arbeit, als Lust und Jubel waren. Wenn dann der Höhepunkt des Festes kam und der würdige Decan auf den erhöhten Rasenplatz trat, um die Prämien auszutheilen an Diejenigen, welche sich in den verschiedenen Classen das Jahr durch ausgezeichnet hatten, da schwieg Alles und lauschte dem Worte, und die Gekrönten zogen triumphirend zu den Ihrigen. Am Abende ging man zur Stadt zurück, wieder ohne Commando und Tactstock, in frei gebildeten Gruppen, wann und wie es einer jeden beliebte.

Ein wahres Labsal war es für mich, dann und wann an Feiertagen oder wenn zwei Festtage zusammenkamen, die Großeltern (mütterlicherseits) in R. besuchen zu dürfen. Da konnte man doch wieder einmal aufathmen. Das Landstädtchen lag so romantisch da auf einer Hochebene und gewährte eine weite Fernsicht, aus welcher das Stammschloß der preußischen Fürsten, der Hohenzollern, deutlich hervortrat. Freilich war der Weg nach R. jedesmal beängstigend. Es ging viel durch Wald und an einsam stehenden Hütten vorbei. Ich hielt mir das alte „Cantavit vacuus coram latrone viator“[1] vor und versuchte es auch etwa mit einem kleinlauten Summen und Piepen vor mich hin; aber wenn der Hauptwald kam, half dieser heidnische Trost nicht mehr. Ich wandte mich zum Christengott und betete so anhaltend und inbrünstig, als ich konnte, und versprach ihm allerlei Schönes, wenn er mich unversehrt bis an das Ende des Waldes brächte. Solch ein Hasenfuß war ich doch früher nicht gewesen. Das machte die Gelehrsamkeit, das Hocken hinter den Büchern. Die Bildung verweichlicht, was schon der römische Dichter gewußt hat?[2]

Aber wie bald waren die Schreckgestalten der Phantasie, die feurigen Augen hinter jedem Busche, die bärtigen Räubergestalten vergessen, wenn ich nun bei den Großeltern saß in dem reinlichen Stübchen des obersten Stockes, den sie sich für ihr Alter vorbehielten, als der Sohn, der weitgereiste und gewandte Gastwirth, mein Onkel, den Gasthof übernahm. Es waren herzgute Alte: der „Aehni“ mit gemessenem würdevollem Schritte, der den einstigen Stadtrath verrieth im Sammetwams, mit kurzen Beinkleidern, die unter dem Knie gebunden waren, mit langen Strümpfen und silbernen Schnallen auf den Schuhen. Die „Ahne“ sehe ich noch, wie sie in der Morgenhaube am geöffneten Fenster saß und wohl eine halbe Stunde ihr Gebet aus dem abgegriffenen Büchlein mit großem Drucke hersagte. Einmal waren wir auch bei ihr auf Besuch, des Präceptors Buben und ich; wir waren Morgens im Bette schon früh munter und begannen unseren Tag mit Singen und Pfeifen; das störte sie in ihrer Andacht. Sie rief zur Thür herein: „Ihr … (hier gebrauchte sie einen der saftigsten Volksausdrücke, mit dem ich das zartere Ohr der heutigen Leserinnen verschonen muß), Ihr … was pfeift Ihr schon? Habt Ihr auch schon gebetet?“

Bald hernach starb sie. Ich durfte nicht mit ihrem Sarge gehen, der Stundenplan verbot es damals. Aber eine Woche später oder zwei durfte ich gehen; ich weinte viel auf dem Wege und meinte, die ganze Natur müsse mit mir trauern. Als ich mit überlaufenden Augen in die Stube trat, grüßte mich der Onkel in seiner barschen, kurzangebundenen Manier, als wäre nichts geschehen, und weinte nicht. Das war mir unbegreiflich, und als er vollends für ein Brod, das der Großvater für mich bestellte, von diesem das Geld annahm, da war ich untröstlich vor Schmerz. Ach! das empfindsame Herz kannte den Lauf der Welt noch nicht.

In demselben Städtchen wohnte auch eine verheirathete Tante, die Schwester meiner Mutter, mit ihrem einzigen Töchterlein, das ein oder zwei Jahre älter war, als ich. Aber das Haus blieb mir fremd, ich weiß nicht warum. Die Tante, die ich erst später in ihrer ganzen Vortrefflichkeit kennen lernte, hatte etwas Herbes in ihrem Tone, und ich fürchtete sie als ein böses Weib. Anders war’s freilich mit dem Bäschen, mit dem „Lisle“. Ich schmachtete nach einem Blicke aus den dunkeln Augen; ich bewarb mich auf alle Weise um ihre Gunst; ich hätte gerne so Etwas wie Romantik einer Jugendliebe angesponnen. Aber diese Augen leuchteten nur Verstand und Muthwillen, und von Empfindsamkeit hatte dieses frische Naturkind keine Spur. Was half da dem Lateiner sein Cicero!

Die Schulzeit neigte ihrem Ende zu. Zwei wichtige Dinge erwarteten mich an ihrem Schlusse: die Confirmation und das Landexamen. Die Confirmation fällt in lutherischen Landen in’s vierzehnte Altersjahr; ich hatte erst dreizehn vorüber. So wie sie gewöhnlich gehalten wird, ist es gut, daß sie so frühe fällt, in ein Alter, in welchem von selbstständiger religiöser Erfahrung und eigenem Nachdenken kaum bei Einigen die Rede

  1. Wer kein Geld in der Tasche hat, kann vor dem Räuber singen.
  2. Didicisse fideliter artes emollit mores.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 286. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_286.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)