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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Tagen einer freien und freudigen Kindheit eintrat! Das war die Luft, die ich fünf Jahre hindurch einathmen sollte. Zwar traf ich’s verhältnißmäßig noch glücklich. Die Frau Präeceptorin, welche die Launen des Mannes durch tröstlichen Zuspruch an das Herz der Zöglinge gut machte und oft stundenlang bei den Schwächeren saß, um ihnen die Aufgaben einzuprägen und abzuhören, war meine nahe Anverwandte und „Dote“ (Taufpathin), die sich ihres kleinen verschüchterten Pathen in herzlicher Liebe annahm. Auch stand der ältere Bruder Theodor noch ein halbes Jahr neben mir als Trost und Stütze, ehe er in das „Kloster“ abging, und mit dem andern Bruder, der mit mir das elterliche Haus verlassen hatte, knüpfte die Fremde das in der Heimath so oft zerrissene Band geschwisterlicher Liebe so rasch und so innig, daß nie mehr ein Wort des Zankes fiel. Aber was hilft dem gefangenen Vogel die milde Hand, die ihm das Futter vorlegt? In den ersten Nächten konnt’ ich nicht schlafen; der ungewohnte Viertelstundenschlag der nahen Kirchenuhr hatte in der Stille der Nacht etwas so Schauriges und Peinigendes. Am ersten Schultage stürmte in der Pause Alles hinaus auf den Turnplatz und tummelte fröhlich durcheinander; aber die Glocke erschallte[WS 1] und Alle stürzen den Hügel hinunter zur Schule zurück. Ich allein bleibe stehen; ich kann nicht zurück; ich weine bitterlich; es ist mir, als wär’ ich von Vater und Mutter und aller Welt verlassen; ein nagendes Heimweh legt sich auf das unerfahrene Herz. Endlich wird der Bruder herausgeschickt und führt den Widerstrebenden in die Schule, wo er von dem Gelächter der Schüler empfangen wird, und der Präceptor sagt: „Wart’, Junge, ich will Dir das Gasthütchen abziehen! Setz’ Dich und zeig’, was Du gelernt hast!“

Jetzt war ich geheilt und – umgewandelt. Der kecke, fröhliche Knabe, dem das Fabuliren und Necken eine Lust gewesen war, ist von jener Stunde an zum stillen, eingezogenen, fleißigen, braven Bürschchen geworden, das sich vom Muthwillen der Jugend abschloß und auf dem besten Wege war, ein gelehrtes Haus zu werden, wovor ihn doch später der Himmel gnädig bewahrt hat. Das Schulideal ergriff ich mit Leidenschaft und studirte über Hals und Kopf. Da ich das Deutsche nicht nach der Schriftsprache, sondern nach dem Laut des Volksmundes schrieb, also „Vatter, Mueter etc.“, so nahm ich Privatunterricht bei einem Volksschullehrer, der auch die Sache so lichtvoll und rationell, den Zögling mit so viel Milde und Trost behandelte, daß ich nach einem Vierteljahre der Orthographie völlig Meister war und nicht leicht noch einen Fehler machte. Im Lateinischen konnte ich nothdürftig mit den Anderen fortschreiten, die ich nach einiger Zeit überflügelte. Denn bald trieb ich die Sprache nicht mehr schulmäßig, sondern auf eigene Faust. Wenn die Schulpensen fertig waren, suchte ich eine Ecke und las den alten Broeder, der damals schon abgeschätzt und durch modernere, handlichere Schulbücher ersetzt war. Aber meinem Eifer war er eben recht – so breit und ausführlich, jede Regel mit ihren Ausnahmen erläutert, durch viele Beispiele anschaulich gemacht und bewahrt und als Krone des Ganzen die lateinischen Erzählungen unterhaltenden und belehrenden Inhalts. Das verschlang ich alles mit Heißhunger und war der Tagesaufgabe der Schule immer weit voraus.

Da kann ich doch eine kleine Schultragödie, die mir begegnete, nicht unerwähnt lassen. Eines Tages, als wieder die Rangplätze bestimmt wurden, übersprang ich eine Classe, und wurde vom Primus einer unteren der Primus einer oberen. Der bisherige Inhaber dieses Platzes geräth in Aufregung und Bestürzung. Mit allem Recht. Er war ein höchst talentvoller Knabe, der einzige Sohn eines Landpfarrers, äußerlich etwas linkisch und unordentlich, aber innerlich um so tiefer angelegt. Eben war ein deutscher Aufsatz über den Nutzen und Schaden der Winde aus seiner Feder als eine wahre Musterarbeit der ganzen Schule vorgelesen worden; im Rechnen, in Geschichte und Geographie, in der Naturkunde etc. war ich ein wahrer Ignorant gegen ihn. Aber ich schrieb ein besseres und fehlerfreieres Latein. Das entschied. „Noch ist nicht aller Tage Abend,“ rief er in höchster Erregung am Abendessen über den Tisch zu mir herüber. Siehe da, schon auf der Schulbank im Kleinen den Kampf zwischen Humanismus und Realismus, zwischen dem Bildungsideal einer untergehenden und einer heraufdämmernden Zeit, der eben damals die literarische Welt bewegte und in heftigen Schriften und Gegenschriften geführt wurde. Noch unterlag der Realist, diesmal leider zugleich in einem schmerzlichen Sinne des Wortes. Kaum hatte er sein stolzes: „noch ist nicht aller Tage Abend“ gerufen, so mußte er sich zu Bette legen – an den Masern, und nach zehn Tagen war er todt. Der herbeigeeilte Vater erdrückte mich in der Umarmung fast vor Weinen und Schluchzen, und der Gang zu dem Grabe des Feindes, den ich liebte und verehrte, erschütterte mir Gemüth und Körper so heftig, daß ich selber die Masern auf meinem Leibe zurücktrug. „Ferien, Ferien!“ hallte es am andern Tage durch die Gänge und Zimmer, denn der Arzt hatte Schluß der Schulen befohlen. Jubelnd hatten wir die Tornister gepackt und standen reisefertig; ich eile noch in die Familienstube des Präceptors, um Abschied zu nehmen; der anwesende Arzt schaut mich bedeutsam an: „Halt einmal, Du kleiner Nestvogel,“ entblößt mir die Brust und sagt: „Geh’ sogleich zu Bett! Du hast die Masern.“ Dieser Sturz von der hellsten Freude in den tiefsten Jammer! Die Andern zogen singend über die Berge; ich mußte in der dunkeln Stube liegen; nach dem traurigen Ausgang des ersten Falles und bei der in jener Zeit noch üblichen Behandlungsart der Krankheit behütet, wie wenn ich von Glas wäre, und noch wochenlang nach der Genesung abgesperrt gegen jedes Lüftchen. Doch milderte mir die treue Schwester, die zur Pflege herbeigeeilt war, die einsamen Stunden.

Der Humanist war gerettet – zu neuem Eifer in seinen Studien. Bald begnügte er sich nicht mehr mit Grammatik und Schulbuch, er wollte die Classiker an der Quelle kennen lernen. An Sommertagen lag er am Hügel unter dem Baume oder im Waldesschatten und las nacheinander Cicero „Ueber die Freundschaft“, „Ueber das Alter“ und den „Traum des Scipio“. Wie schlich sich der Zauber dieser Sprache in das Ohr! Ihre Geheimnisse zu belauschen, diese Wendungen nachzuahmen, diese Satzbildung sich anzueignen, diese Ausdrücke dem Gedächtniß einzuprägen, um sie bei Gelegenheit zu verwenden und ein ciceronisches Latein zu schreiben – denn außer diesem wurde kein anderes als berechtigt anerkannt – das war das einzige Interesse, mit welchem er an diese Schriften herantrat. Natürlich wurde auch der Inhalt gelegentlich mitgenommen und regte das Urtheil an und bereicherte mannigfaltig den Geist. Besonders fiel es mir auf, daß dieser Erzheide Cicero in den wichtigsten Dingen schon ganz dachte, wie die Christen. Wenn man einige polytheistische Klänge wegstreicht, könnte den Traum Scipio’s eben so gut ein Christ des zweiten Jahrhunderts geschrieben haben. Da erscheint die Welt als ein Jammerthal, aus welchem der Fromme sich hinaussehnt, der Leib als ein Kerker, in welchem die Seele nach Erlösung seufzt, und der Himmel als ein Ort der Vergeltung und der ungetrübten Seligkeit mit allem Zubehör des Wiedersehens wird ganz mit den Farben der christlichen Literatur geschildert. Kein Wunder, daß ich später zu den Aussagen der Theologie über die gänzliche Finsterniß der Vernunft und das sittliche Unvermögen der menschlichen Natur außerhalb des christlichen Erlösungsgebietes bedenklich und ungläubig den Kopf schüttelte!

Was den Inhalt betrifft, sprach freilich Livius, dessen römische Geschichte das Schulbuch in einem vortreffliche Auszuge brachte, den jugendlichen Geist weit mehr an, als der docirende und breitmoralisirende Cicero. Was waren das für plastische Gestalten! Diese Gallier in Rom, welche die ehrwürdigen Senatoren auf ihren curulischen Sitzen so höhnisch und frech am Barte zupfen! Dieser Hannibal, getragen von Sieg zu Sieg, voll Haß gegen Rom, das wir mit ihm haßten, dem wir jede Demüthigung schon damals von Herzen gönnten! Dann Scipio und Hannibal vor der Schlacht bei Zama einander gegenüber, in jenen Rhetorstücken und Glanzreden, in welchen sich das Alterthum gefiel, die Situation zeichnend, ehe die blutigen Würfel fielen! Alle diese echt dramatischen Gestalten, fast ohne Schwierigkeit in der Ursprache gelesen und in schönes, fließendes Deutsch übersetzt – denn das Letztere verlangte der Lehrer streng, und reichte, wenn wir aus eigenem Fleiße fertig waren, die treffliche Uebersetzung des Livius von Heusinger – was war das für eine Wonne! Wie viel Geistes- und Gemüthsbildung brachten diese Studien neben der Weckung des Sprach- und Formensinnes!

Unsere Zeit verträgt das einseitige Bildungsideal jener Zeit

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: erschallt
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 285. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_285.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)