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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


gewöhnen, mit dem Feinde in ihrem Vaterhause den Tisch zu theilen. Das ferne Dröhnen der Kanonen, an das sie selbst sich längst gewöhnt hätte, habe das arme Mädchen ganz nervös aufgeregt; ein ruhiges Wort lasse sich jetzt gar nicht sprechen.

Arnold war verstimmt: also ein Rückfall, und anscheinend kein leichter. Er überlegte, was weiter zu thun sei, und überließ seiner Wirthin das Wort fast allein. Als er schon aufstehen wollte und eben eine Entschuldigung einleitete, daß er wahrscheinlich morgen verhindert sein werde, mit ihr zu tafeln – er meinte einen Druck üben zu müssen – trat Juliette vom Cabinete her in das Zimmer ihrer Mutter und setzte sich an deren Schreibtisch auf denselben Lehnstuhl, auf dem Arnold gesessen hatte, als er zuerst ihre bildliche Bekanntschaft machte. Es schien ihr ganz entfallen zu sein, daß sich im Salon ein Gast befand, oder es war ihre Absicht, ihn ganz unbeachtet zu lassen, jedenfalls beschäftigte sie sich, als ob sie allein wäre, mit den Nippessächelchen, öffnete die Schreibmappe, tauchte eine Feder ein und legte sie wieder fort. Madame Blanchard hüstelte wiederholt verlegen in ihr Tuch, um ihr ein Zeichen zu geben, aber sie achtete nicht darauf. Endlich nahm sie das Gestell auf, das ihr Bild eingefaßt hatte, hielt den leeren Rahmen vor sich hin und guckte schelmisch hindurch nach dem Salon hin gerade auf den Platz, den Arnold einnahm. Nun mußte er lachen, denn er dachte an das Bild in seiner Tasche. Juliette bemerkte es und rief hinein:

„Sind diese Prussiens nicht ganz abscheuliche Bösewichter? Mich fortzustehlen – mich! Wenn sie uns eine Festung mehr genommen hätten, es wäre mir nicht so ärgerlich gewesen. Und nun bestreiten Sie noch, mein Herr, daß Ihre Landsleute barbarisch Krieg führen – bestreiten Sie es, wenn Sie es angesichts dieses ausgeraubten Rahmens können!“

Arnold war aufgestanden und unter die Portière getreten. „Ich denke, der größte Barbar kann’s gerade nicht gewesen sein,“ sagte er, über und über roth im Gesicht, „der sein Auge auf diesen Schatz geworfen hat. Das kleine Bild muß ihm sehr gefallen haben, und ich kann das jetzt ganz gut begreifen, nachdem ich das Original –“

„O, keine Schmeichelei!“ unterbrach sie. „Man will nicht Jedem gefallen, und es giebt Auszeichnungen, die einer Beleidigung täuschend ähnlich sehen.“

Der junge Mann sah zur Erde. „Wie können Sie die Sache so ernst nehmen?“ fragte er etwas befangen.

„Wie, mein Herr,“ rief sie, „fühlen Sie nicht, daß ich das beste Recht dazu habe? Kann es mir gleichgültig sein, wer mein Bild mit sich herumträgt? Einer unserer Feinde ist’s. Und welche Absicht konnte diesen Langfinger geleitet haben, als er es nahm? Recht empfindlich verletzen wollte er die junge Dame, die es doch einmal vermissen mußte –“

„O, wie können Sie denken, mein Fräulein –“

„Renommiren wollte er mit dem Bilde bei seinen rohen Cameraden und später in der Heimath: das sei ein Geschenk von dem leichtsinnigen Dinge da, das so lustig lache, während ganz Frankreich weine. Welche Lüge darf er sich nicht erlauben? Wer stiehlt eine Photographie, keinen halben Franken werth – die Photographie eines Menschen, der ihm ganz fremd, ganz gleichgültig ist? Nein, nein, er kann mich ungestraft verleumden. Und wer weiß, wie der Zufall spielt, wer das Bild bei ihm sieht? welchen Mißbrauch er mit dem Namen, den er ist unten an der Hausthür lesen konnte –“

Arnold schüttelte sehr energisch und unwillig den Kopf. „Sie kennen uns Deutsche nicht,“ rief er in ihre erregten Fragen hinein. „Ich weiß nicht, ob ein deutsches Mädchen, dem etwas der Art begegnet wäre, von einem Ihrer Landsleute zu befürchten hätte, was Sie befürchten; aber ich glaube mein Wort verpfänden zu können, daß Sie ganz ruhig sein dürfen. Denken Sie sich doch nur in die Situation hinein! Während Ihre Keller ausgeräumt werden und eine lustige Gesellschaft sich den Rothwein Ihres Herrn Papa gutschmecken läßt, durchwandelt ein stiller Mensch diese verlassenen Räume, stellt allerhand philosophische Betrachtungen an über die Wandelbarkeit menschlicher Geschicke und über die Vergänglichkeit irdischen Glanzes, sieht auf dem Schreibtische das Bild eines schönen jungen Mädchens –“

„O, mein Herr –“

„Gut! Das Bild eines jungen Mädchens, das ahnungslos heiter in die Welt hinausgeschaut – Sie sagen selbst, das Bild habe gelacht – der Gegensatz zieht ihn an, bestärkt ihn in seinen melancholischen Betrachtungen; es entsteht in seinem Leben das, was man einen Moment nennt, und – er nimmt ein Andenken an diese Stunde. Erklärt sich’s so nicht ganz ungezwungen?“

Juliette hatte den Kopf gesenkt und die Augenbrauen finster zusammengezogen. „Sie legen’s eben in Ihrer Weise aus,“ sagte sie, „aber nicht viel tröstlicher für mich. Es ist sehr peinlich, sich in solchen mystischen Beziehungen zu einem Unbekannten zu wissen. Wenn er wenigstens noch sein Bild dafür zurückgelassen hätte! Unverschämt wär’s gewesen, aber man könnte seinen Haß doch gegen eine vorstellbare Person richten.“

„Sie hassen ihn?“

„Aus tiefster Seele!“

„Und wenn er nun mit ganz anderen Empfindungen an Sie denken sollte? Wenn dieses kleine Bild in seinem Gemüthe die größte Unruhe und Sehnsucht … Es soll doch schon vorgekommen sein, daß ein Bild so wunderbare Wirkungen äußerte.“

Sie sah überrascht zu ihm auf, und dann leuchteten ihre Augen plötzlich von jenem blitzartigen Feuer, das er auch sonst schon bei leidenschaftlicher Betheiligung daraus hatte sprühen gesehen. „Das wollte ich wünschen,“ sagte sie, nur die Lippen, nicht die weißen Zahnreihen öffnend. „Es wäre eine gerechte Strafe. Ja, wenn ich zaubern könnte – so wollte ich’s ihm anzaubern, daß er sich sehnte, wie nach einer Märchenfee, die er im Traum gesehen, und nicht Ruhe fände, bis er das Bild zu Asche verbrannt und sie in alle vier Winde gestreut hätte. Wie schade, daß ich keine Hexe bin!“

„Wenn Du wüßtest, wie zauberkräftig Du bist!“ dachte Arnold bei sich und ein halb verlegenes, halb wehmüthiges Lächeln spielte um seinen Mund. Hätte er beichten wollen – nun wär’s ihm unmöglich geworden. Noch war er ihr zu wenig, das mußte er fühlen; verrieth er jetzt sein Geheimniß, so wandte sie ihm den Rücken und er sah sie nie wieder. Er mußte schweigen und ihren Zorn verrauchen lassen. Warum hatte er auch nicht das Bild in den Kamin geworfen!

Er brach das Gespräch ab und leitete es auf eine Frage, die ihn jetzt sehr nahe anging. „Es war kein Unwohlsein,“ sagte er, „was Sie hinderte, an unserm Mahl Theil zu nehmen. Leugnen Sie’s nicht! Sie wollten mir zu verstehen geben, daß sich Ihnen ein unlieber Tischgenosse sei …“

„Mein Herr –“

„Ich rechte darüber mit Ihnen nicht. Aber wissen muß ich, ob es Ihre Absicht ist, auch ferner auszubleiben.“

„Und wenn …?“

„Ich würde es dann für meine Pflicht halten, die Wohnung Ihrer Eltern nicht mehr zu betreten.“

Juliette war auf eine solche Erörterung nicht vorbereitet. Sie biß die Lippe und ließ einen Blick in den Salon schweifen, in dem sie ihre Mutter anwesend wußte. Madame Blanchard hatte sich bei der Conversation gar nicht betheiligt, aber daß ihr kein Wort davon entgehen werde, konnte ihre Tochter sich sagen.

„Ist das Ihr Ernst?“ fragte sie nach einer Weile.

„Mein ernsthaftester Ernst,“ antwortete er schnell und mit so festem Ton, daß sie nicht daran zweifeln durfte.

Sie besann sich wieder. Ein sehr lebhaftes Mienenspiel verrieth ihm ungefähr ihre mit einander streitenden Empfindungen. Dann flog wieder das schalkhafte Lächeln über ihr reizendes Gesichtchen, das mit allen ihren Unarten aussöhnen konnte, und es klang ihm wie Musik, als sie, aufstehend und sich halb zum Fenster wendend, schmollend sagte:

„Kommen Sie nur wieder! Es war nicht so böse gemeint. Ich werde mich in’s Unvermeidliche schicken.“

Er wollte ihre Hand fassen und seinen Dank bestätigen, aber Juliette schlüpfte fort, ohne noch einmal umzuschauen, und schloß die Thür das Cabinets hinter sich. „Der Eigensinn ist doch gebrochen,“ beruhigte Arnold sich, küßte Madame Blanchard die Hand, indem er dabei an ihre Tochter dachte, und klopfte unten vergnügt seinem Kruttke auf die Schulter, der mit richtigem Instinct auf diese Liebkosung mit einem ebenso vergnügten: „Na – dann ist’s schon gut“ antwortete.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 248. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_248.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)