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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


daß Sie’s wissen, wenn ich meinen ganz egoistischen Zweck erreichen soll.“

Arnold sah das Mädchen mit großen Augen an und schüttelte den Kopf. „Das verstehe ich nicht,“ sagte er und die Betonung der Worte ließ erkennen, daß er zugleich sagen wollte: ich will’s auch nicht verstehen.

Aber sie nahm nicht Rücksicht darauf. „Meine Eltern behaupten,“ fuhr sie fort, „daß sie Ihnen Dank schuldig seien, mein Herr, Ihnen – unserem Feinde, und ich fühle, daß auch ich Ihnen in gewissem Sinne verpflichtet bin, da Sie sich ja, ohne mich zu kennen und nur um meiner Mutter eine Gefälligkeit zu erweisen, zu dieser Reise entschlossen haben, und da ich ohne diesen Ihren Beistand wahrscheinlich von Denen, die ich liebe und die mich lieben, für lange Zeit weit getrennt worden wäre. Eine solche Verpflichtung fühlt sich aber wie eine Last jener anderen patriotischen Verpflichtung gegenüber, den Landesfeind zu hassen, jede Gemeinschaft mit ihm, wenn nicht aufzuheben, so doch zu beschränken und ihm so viel Schaden zuzufügen, wie irgend möglich. Da freute ich mich denn, ganz unerwartet eine Gelegenheit zu finden, unseren schuldigen Dank quitt zu machen, so gründlich quitt zu machen, daß auf unserer Seite vielleicht noch ein kleiner Ueberschuß von Wohlthat blieb, auf den wir uns berufen können, wenn Sie uns nöthigen, auch ferner Ihre mancherlei freundlichen Anerbietungen zu acceptiren. Ich rechne, daß Ihnen das Leben großen Werth hat, das Gegentheil wäre unnatürlich. Nun denn! gewissermaßen habe ich ein Recht zu sagen, daß es Ihnen von mir geschenkt sei. Ich erwarte dafür keinen Dank – nicht den mindesten, mein Herr, aber ich will, daß Sie wissen sollen, auf welche Weise wir Ihnen unseren Dank abtragen. Nochmals: wir sind quitt, und es hindert mich nun Nichts mehr, Sie mit aller Freiheit die Feindschaft empfinden zu lassen, die mir ein Herzensbedürfniß ist.“

Sie warf ihm einen triumphirenden Blick zu und schritt kräftiger aus. Arnold war betroffen von dieser Auslegung ihrer Handlungsweise. Alle seine kühnen und so schmeichelhaften Voraussetzungen brachen zusammen. Ihres Dankes wollte sie gegen ihn ledig sein – nichts weiter. Und das sagte sie ihm mit so raffinirter Aufrichtigkeit in’s Gesicht, so ohne Bewegung, als habe sie ein Exempel ausgerechnet und richtig befunden. Es war darin etwas, was ihn tief empörte; er hätte ihr zurufen mögen: ich will ein Geschenk nicht, das Du mir so verletzend bietest –! wenn es nicht lächerlich gewesen wäre, es jetzt auszuschlagen, wo es gar nicht mehr zurückgenommen werden konnte. Und gleich darauf mußte er wirklich lachen, über Juliette lachen, die so doctrinär, wie ein kleiner Professor, ihre menschlichen und patriotischen Pflichten abwog, mit Gründen experimentirte, über sein Leben verfügte und an ihren eigenen Heroismus ganz ernsthaft glaubte. Es kam ihm vor, als ob sie auf hohen Stelzen neben ihm herginge und versicherte: so groß bin ich, Du darfst aber nicht daran zweifeln, sonst bin ich sehr böse. Sie hatte sich mit ihren siebenzehn Jahren in der Pension eine Welt zurecht gemacht, so regelrecht französisch, daß sie ihre Position für ganz unangreifbar halten konnte, und nun kam das Leben und stellte eine Figur auf das Schachbrett, die dreist gegen die Königin selbst vorschritt und sich von ihren Trabanten durchaus nicht aus dem Felde schlagen lassen wollte. Es war wirklich spaßhaft, wie sie sich abmühte, den Eindringling zu ignoriren, während sie doch schon mit allen ihren Gedanken an ihm hing. „Mit allen ihren Gedanken,“ versicherte Arnold sich selbst, „wie sie sich auch dagegen wehren mag.“

„Sie antworten mir gar nicht?“ fragte Juliette nach einer Weile, ein wenig gereizt.

„Welche Antwort befehlen Sie, Herrin?“ fragte er zurück, nicht ganz ernst, aber auch nur mit halbem Scherze.

Sie stutzte. „Befehlen?“

„Nun – Sie haben sich ja wohl eine Rolle ausgearbeitet und brauchen doch jedenfalls dazu ein Stichwort.“

„Spiele ich mit Ihnen Komödie, mein Herr?“

„Ich denke, ein wenig – und wenn nicht mit mir, so mit sich selbst.“

„Das ist eine starke Behauptung. Sie glauben nicht, daß ich genau meiner Ueberzeugung gemäß handele?“

„Aber nicht Ihrer Empfindung gemäß. Ihr warmes Herz und Ihr freundlicher Sinn wissen nichts von der Todfeindschaft, die Ihr oppositioneller Kopf sich ausklügelt.“

„Sie irren, mein Herr, Sie irren,“ rief sie eifrig. „Eine gute Patriotin –“

„Ah!“ unterbrach er mit einer abweisenden Handbewegung. „Man muß allemal über dem Patrioten nicht den Menschen vergessen, und eine Frau besonders …“

„Was wollen Sie sagen?“

„Wir werden uns darüber nicht vereinigen können.“

Juliette bedachte sich einen Augenblick. „Aber wir können doch darüber disputiren,“ sagte sie dann schnell. „Oder wollen Sie nicht?“ Ein Blick begleitete diese Frage, der wie ein Zündfunke einschlug. Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern fuhr fort. „Mein Fuß ist noch recht schmerzhaft – sehen Sie nur, wie ich ihn mühsam nachschleppen muß. Wenn Sie ein Franzose wären und ich ein deutsches Mädchen – Sie hätten mir längst artig Ihren Arm angeboten.“

Arnold durchzuckte es freudig. „Auch der Deutsche ist gern so galant,“ erwiderte er, „wenn er nicht fürchten darf, einen Korb zu erhalten.“ Er reichte ihr den Arm.

„Was thut man nicht in der Noth!“ sagte sie lachend, indem sie sich darauf stützte, „und wir sind ja quitt.“

So gingen sie nun wie gute Freunde neben einander her, er mit großen, festen Schritten, sie trotz ihres kranken Fußes leicht tänzelnd, jedem Steine und jeder Wasserfurche auf der Landstraße peinlich ausweichend. Juliette meinte es ganz ernst mit dem Disputiren und hatte es bei seiner Zerstreutheit nicht schwer, immer das letzte Wort, und damit, wie sie behauptete, Recht zu behalten. Es kam ihm auch so wenig darauf an, ihrem Eigensinne irgend ein Geständniß abzustreiten; daß sie nun so freundlich und gesprächig war, und ihre Schulter an die seine lehnte und ihn mit ihren blitzenden Augen ansah und mit dem warmen Hauche ihres Mundes berührte, wenn sie lebhaft sprach – das entzückte ihn, das bedeutete ihm einen Sieg, auf den er nicht mehr gehofft hatte. Sie schien alle ihre Trümpfe gegen ihn ausgespielt zu haben und nun ganz beruhigt zu sein. „Wir sind ja quitt – “ das hatte ihr offenbar den Sinn: ich habe nicht mehr nöthig, meine Feindseligkeit zur Schau zu stellen. Und er verstand sie nun auch so und hütete sich, sie wieder auf andere Gedanken zu bringen: er sagte das Wenigste von Dem, was er hätte sagen können.

Es hatte doch seine Gefahr für eine junge Dame, einem Feinde das Leben zu retten. Dieses Leben, noch kurz vorher so gleichgültig, wird plötzlich interessant; es fordert Theilnahme, behauptet einen Werth, stellt sich unabweislich in die eigene Lebensrechnung als eine Zahl ein, die sich immer vergrößert und ohne Einbuße nicht mehr streichen läßt. Juliette begriff diese Gefahr noch nicht; aber wenn sie sie begreifen wird, ist es vielleicht schon zu spät, sich ihr zu entziehen. –

Die Eisenbahnstation wurde ohne Hinderniß erreicht. Dort gab es freilich langen Aufenthalt; gegen Abend aber gelang es Rose doch, mit Hülfe eines hohen Officiers für seine müden Reisegefährten Plätze zu erlangen, und nach einem kurzen Nachtmarsche konnten sie dann die Glocke an der Thür der Villa ziehen. Madame Blanchard eilte die Treppe hinab ihrer Tochter entgegen und erstickte sie fast mit Küssen. Kruttke, mit einem Lichte in der Hand, stand in einer Ecke der Flur und beobachtete still. Sein ganzes Gesicht lachte, und eine Thräne der Rührung, die ihm über die rothe Backe floß, wischte er mit dem Rockärmel fort. „Ich muß immer an meine alte Mutter denken, wenn ich so was sehe,“ sagte er heimlich zu Rose; „wie die sich aber freuen wird, wenn ich einmal … na! wie Gott will!“ Blanchard stellte allerhand gewagte Vermuthungen über den baldigen Entsatz von Paris auf, worauf seine Frau kaum achtete. Dann zogen sie sich in ihre Gemächer zurück, ohne dem deutschen Freunde auch nur eine gute Nacht zu bieten. Nur Juliette wandte noch einmal auf halber Treppenhöhe das Köpfchen zurück und nickte flüchtig. Das that ihm sehr wohl. – –

Als er sich am anderen Tage zur bestimmten Zeit oben beim Mittagstische einfand, empfing ihn nur Madame Blanchard. Sie dankte ihm nun in überschwenglicher Weise für seine Mühewaltung und bedauerte, daß er einer nicht geringen Gefahr ausgesetzt gewesen; sie bat ihn aber zugleich, etwas verlegen, mit ihrer Gesellschaft vorlieb zu nehmen; ihr Mann fühle sich sehr unwohl und Juliette … sie wollte lange mit der Sprache nicht recht heraus: Juliette könne sich noch nicht so schnell an den Gedanken

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