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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

„O, Dank, besten Dank! Wenn Sie nur noch das kleine Flacon finden könnten, das sich mir vom Bande losgerissen hat! Es ist ein Geschenk von der guten Tallandier, in einer theuren Lehrerin, und ich verliere es ungern. Ach! wenn ich mir nur nicht den Fuß verstaucht hätte …“

Rose versicherte, daß er’s schon gefunden und eingesteckt habe. „Nichts lassen wir zurück,“ fuhr er fort, „als den zerbrochenen Wagen und das Stroh darauf. Wir haben ja die beiden Pferde. Mit der Leine, die nicht mehr gebraucht wird, befestigen wir das Gepäck auf ihren Rücken. Wie viel Stücke hatten Sie mit?“

Juliette zählte und beschrieb. Blanchard fing sich nun doch an zu schämen, so unthätig dazusitzen; er ließ sich die halbe Böschung hinabgleiten, nahm von Arnold die Sachen in Empfang und reichte sie seiner Tochter hinauf. „Es fehlt nichts mehr,“ bestätigte dieselbe endlich, „aber an einer von den Kisten ist der Deckel eingedrückt, und der Handkoffer scheint sehr naß geworden zu sein. Wenn nur das hübsche blauseidene Kleid verschont geblieben ist, das Mama mir zum letzten Geburtstage geschenkt hat!“

Arnold trieb die Pferde den Damm hinauf; die Sachen wurden geschickt aufgepackt und befestigt. Er nahm die Zügel in die Hand und commandirte den Aufbruch. „Wir haben noch eine gute Stunde bis zum Wirthshause,“ sagte er, zu rascherem Ausschreiten aufmunternd, „und die Nacht überfällt uns.“

Juliette hatte sich auf ihres Vaters Arm gestützt und bemühte sich, mit dem Führer Schritt zu halten. Anfangs zog sie den verletzten Fuß nur ein wenig nach, bald aber hinkte sie bedenklich und ließ ihre Last den kleinen Mann, ihren Vater, so empfindlich fühlen, daß dieser stöhnend den Vorschlag machte, den Arm zu wechseln. „Ich brauche aber gerade auf dieser Seite eine Stütze,“ versicherte das Mädchen weinerlich, „weiter, weiter, Papa!“

Blanchard fügte sich seufzend; aber schon nach wenigen Minuten blieb er wieder stehen. „Es geht so nicht, Kind,“ versicherte er. „Beim besten Willen –! Ich nehme gewiß auf mich keine Rücksicht, aber mein eigener leidender Zustand …“

Arnold wurde aufmerksam. „Wollen Sie ausruhen?“ fragte er.

„O, es wird dann nur schlimmer,“ entgegnete die Französin. „Nein, nein! eilen wir, unter Dach zu kommen.“

„Ja, eilen – eilen!“ knurrte der Papa; „ich kann Dich doch unmöglich tragen, Kind. Wenn Sie vielleicht mit mir tauschen wollen, Herr Rose …? Ich könnte ja die Pferde führten, und Sie gestatten gütigst meiner Tochter –“

„Auf keinen Fall, Papa!“ warf Juliette ein. „Ich will lieber hier auf der Landstraße den Morgen erwarten, als Herrn Rose bemühen …“

„Aber das und ja Thorheiten,“ ließ sich Herr Blanchard in seinem Aerger etwas ungalant vernehmen. „In der Noth, Kind – und Herr Rose verdient wirklich nicht, so unfreundlich –“

Er unterbrach sich selbst, als fürchtete er, doch zu viel zu sagen. Arnold hatte auch genug gehört. „Ich darf Ihnen meinen Arm nicht anbieten, mein Fräulein,“ sagte er ziemlich kühl. „Aber wie wär's, wenn Sie sich entschließen könnten, eine unserer beiden Rosinanten zu besteigen? Unbequem freilich wird der Ritt sein, aber Sie schonen wenigstens den Fuß.“

Er wartete eine Antwort nicht ab, sondern räumte von dem einen Gaule das Gepäck fort, legte die wollenen Decken zusammen, die vorher auf den Strohbündeln gelegen hatten, und versuchte eine Art von Sattel herzustellen, der einigermaßen gegen den Druck des weit vorstehenden Rückgrates schützen konnte. Er hielt dann seine Hand hin, indem er sich bückte. „Benutzen Sie diesen lebendigen Steigbügel, mein Fräulein!“ bat er, „es wird Ihr Gewissen sicher nicht beschweren, einen Feind mit Füßen zu treten.“

Sie zögerte ein Weilchen und schaute wie nach einer anderen Hülfe um. Aber es gab sonst kein Mittel, auf das Pferd zu gelangen, da nicht einmal ein großer Stein in der Nähe war. „Ich bin gar nicht so boshaft,“ sagte sie dann, stützte sich auf seine Schulter und setzte die Fußspitze wirklich auf seine Hand. Mit einem raschen Schwunge saß sie quer auf dem Gaul und suchte sich's auf demselben möglichst bequem zu machen, ohne sogleich die Hand von Arnold's Schulter fortzuziehen. „Vortrefflich!“ rief sie, „ich danke Ihnen recht sehr für den klugen Einfall. Willst Du mir nun Deine Hand reichen, Papa? Ich werde mich allein auf dem losen Sattel nicht halten können.“ Herr Blanchard sprang zu und löste Rose ab. Der kleine Zug setzte sich wieder in Bewegung.

Eine halbe Stunde ging's rasch vorwärts. Dann fing Herr Blanchard wieder sehr verdächtig zu seufzen und zu stöhnen an. Der Braune, auf dem Juliette saß, hatte einen harten und stoßenden Schritt. Die Decken lagen nicht fest; der Fuß fand keine Stütze; so wurde der Ritt sehr ermüdend, und Herr Blanchard fühlte bald seine hochausgestreckte Hand noch mehr belastet, als vorhin seinen Arm.

„Möchtest Du nicht einmal in die Mähne fassen?“ fragte er verzweifelt. Es ist nur, daß ich ein wenig ausruhe.“

„Ich sitze wie auf einer Stange,“ entgegnete sie, „und kann nicht balanciren, wenn ich mich bücke. Lass' nur – das Sitzen wird mir so wenigstens erträglich.“

„Ja – aber ich halt's nicht länger aus,“ versicherte er, und ließ die Hand sinken. Arnold gab seinen Platz vor den Pferden auf und eilte zum Beistand herbei. Ohne weiter zu fragen, reichte er Blanchard den Zügel und faßte kräftig des Fräuleins Hand.

Sie widerstrebte jetzt nicht weiter, weder mit Worten, noch durch die That, sondern ließ geschehen, was sie in ihrer Lage nicht glaubte ändern zu können. Zwar bemühte sie sich anfangs, seine Hülfe nur so weit in Anspruch zu nehmen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren; bald aber gab sie auch diese Reserve auf und stützte sich bei jeder Hebung des Pferdes auf seinen Arm wie auf einen festen Stab. Die Kraft, die er ihrem Druck entgegensetzte, gab ihr ein angenehmes Gefühl der Sicherheit, und so fing sie denn auch wieder mit ihrem Vater ganz lustig zu plaudern an. Rose betheiligte sich nicht bei dem Gespräch; es war ihm eine ganz eigene Empfindung, die kleine warme Hand des reizenden Mädchens in der seinigen zu fühlen, das sich so viel ausgesuchte Mühe gab, ihm feindlich zu begegnen, und an das er sich doch mit immer festeren Banden gefesselt wußte.

Jetzt wurde bei einer Biegung des Weges in der Ferne ein Licht bemerkbar. „Da!“ rief Juliette. „Wir sind am Ziel.“

„Es ist das alleinstehende Haus an der Landstraße,“ bemerkte Rose, „in dem sich allerdings eine Wirthschaft befindet. Bis zum Städtchen ist’s von da noch eine Viertelstunde, und ich möchte des bequemeren Nachtquartiers wegen rathen –“

„Nein, nein!“ unterbrach das Mädchen eifrig, „wir kehren hier ein. Das bequemste Nachtquartier ist jedenfalls das nächste.“

Gleich darauf durchschnitt die Straße ein niedriges Gehölz. Schon nach wenigen Schritten tönte ihnen aus demselben ein barsches „Qui vive?“ entgegen. Blanchard blieb sogleich stehen und hielt die Pferde zurück. Vom Graben her tauchte eine Gestalt auf und näherte sich den Reisenden. Es war ein Mann in blauer Blouse; ein breitkrämpiger Filzhut deckte das Gesicht und ein Gewehr in seiner Hand weckte wenig Vertrauen. Eine zweite Gestalt folgte und stellte sich mitten auf den Weg nicht weit vor den Pferden.

„Was soll das?“ fragte Rose unwillig, „sind wir hier unter Räubern …“

Er fühlte einen schnellen Druck der kleinen Hand und begriff sogleich, daß er ihm Schweigen gebieten sollte. Blanchard gab mit etwas stotternder Stimme Auskunft über das Woher und Wohin, und Juliette vervollständigte mit größerer Geläufigkeit seine Angaben.

„Und der Herr da?“

„Unser Begleiter, lieber Freund.“

„Ein Prüssien –!“

„Allerdings, aber kein Soldat.“

„Sondern –?“

„Ein Krankenpfleger. Die Binde mit dem rothen Kreuz –“

„Kann jeder Spion anlegen.“

„Mein Herr –“ fiel Rose aufgebracht ein.

„Schweigt!“ rief der Blousenmann und ein sanfter Händedruck belehrte ihn, daß er gehorchen solle.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 228. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_228.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)