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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

gutmüthigen Thieren und auf der breiten ebenen Landstraße ganz ungefährlich waren. Hin und wieder fiel eine Aeußerung, die Arnold als eine neckische Herausforderung hätte auffassen können, in diesen Ton einzustimmen, und es schien sie dann zu ärgern, daß er nun beharrlich schwieg.

Nach einer Stunde aber wurde die Unterhaltung matter und matter. „Gieb mir die Leine,“ sagte Blanchard, „Deine Hände ermüden.“

Doch das ließ nun der Eigensinn noch nicht zu. „O, gar nicht,“ antwortete sie, aber keinesweges mit überzeugender Munterkeit, sondern schon recht abgespannt und wie geärgert.

„Wir sind gewiß nicht mehr weit von der Station.“

Das war, wie Arnold wußte, ein Irrthum. Aber er schwieg auch jetzt; er that so, als ob der Wagen hinten ganz leer sei. Wollte er Juliette an seine Gegenwart erinnern, so konnte er kein wirksameres Mittel wählen. Es dauerte denn auch nicht lange, so wandte sie sich halb zurück und sagte ohne den bisherigen spitzen Accent:

„Können Sie uns vielleicht Auskunft geben, mein Herr, ob es noch weit bis zur Station ist?“

„Eine ziemliche Strecke,“ antwortete er, ohne sich zu rühren.

„Der Weg ist entsetzlich langweilig,“ bemerkte sie zu Blanchard, der schläfrig nickte, und dann wieder so weit zurückgewendet, daß für Arnold das ganze Profil des zierlichen Gesichtchens bemerklich wurde: „Sind Sie denn auch sicher, mein Herr, daß wir den richtigen Weg einhalten?“

„Es ist derselbe, auf dem wir die Hinfahrt gemacht haben,“ antwortete der Gefragte in gezwungen gleichgültigem Ton. Das Profil war allerliebst.

Wieder eine Pause.

„Aber es dämmert schon.“

Es dämmerte wirklich schon recht merklich. Der Himmel war grau bezogen, und der röthliche Streifen ganz unten am Horizont zeigte an, daß die Sonne untergegangen sei. Nach einer halben Stunde etwa gelangte man an eine Brücke. Der gemauerte Bogen war von Freund oder Feind gesprengt und dann nothdürftig mit Steinen und Holz ausgebessert worden. Auch der Weg wurde hier sehr schlecht, da augenscheinlich quer durch die Chaussee breite und tiefe Gräben gezogen waren, die man dann nur in der Mitte ziemlich lose einschüttete, um einen dammartigen Uebergang zu gewinnen. Es war inzwischen so dunkel geworden, daß man auf weitere Entfernung nur mit einiger Mühe die Unebenheiten der Straße erkennen konnte.

„Vorsichtig, mein Fräulein, vorsichtig!“ rief Rose.

„Der Weg wird schwierig,“ bemerkte Herr Blanchard, ängstlich zur Seite über das tief in das lose Erdreich einsinkende und sich dann wieder rasch hebende Rad hinabsehend.

„Doch einmal eine kleine Abwechselung,“ entgegnete die junge Dame, die Pferde mit dem Zügel antreibend.

Das Rad ging über einen Stein weg und Herr Blanchard machte auf dem Sitze eine hüpfende Bewegung. „Sollten wir nicht doch lieber Herrn Rose bitten …“

„Warum denn? Ich lenke schon zur Seite.“

„Steigen Sie ab, mein Fräulein!“ bat Rose, „es geht so nicht weiter.“

„Wir sind gleich wieder auf festem Boden.“

In diesem Momente sank das Vorderrad neben ihr wie in ein tiefes Loch. Arnold stand auf und nahm Blanchard die Peitsche aus der Hand. „Sie werfen um, mein Fräulein,“ rief er.

Juliette lachte. „Sind Sie so furchtsam?“ Sie riß dabei am Zügel und suchte die Pferde zu einer scharfen Wendung zu vermögen. Das eine stand hoch, das andere tief; die herumschwankende Deichsel schlug das untere gegen den Kopf und zwang es zu einem scheuen Ausweichen.

Rose beugte sich schnell über und griff nach der Leine. „Geben Sie, mein Fräulein, geben Sie!“ sagte er hastig. Sie suchte sich ihm zu entziehen und lenkte dabei unwillkürlich noch mehr nach der gefahrvollen Seite. Nun glitt auch das Hinterrad die Böschung hinab; Herr Blanchard sprang mit einem raschen Satze hinaus. Dabei verlor der Wagen nun ganz das Gleichgewicht, kam in's Kippen und überschlug sich. Arnold hatte nur noch gerade Zeit, das Fräulein vom Strohsitze zurückzureißen und in eine weniger gefährliche Lage zu bringen. Was in den nächsten Secunden geschah, wußte er nicht.

Als er sich wieder aufraffte, fühlte er einen heftigen Schmerz am Kopfe wie von einem Schlage. Er sank mit den Füßen in eine schlammige Masse, aus der mehrere große Steine hervorragten. Der Wagen lag völlig umgekehrt im Graben nicht weit von ihm. Ein wenig oberhalb bemühte sich Blanchard, seine Tochter aufzurichten. „Hast Du Dich beschädigt, mein Engelskind?“ hörte er ihn wiederholt fragen. Juliette gab keine Antwort. Eine furchtbare Angst überkam ihn; er nahm alle seine Kraft zusammen, sich aufrecht zu stellen und die Böschung hinaufzuklettern.

„Wie geht's dem Fräulein?“ fragte er besorgt. „Mein Gott! Doch kein größeres Unglück?“

Seine Stimme brachte Juliette wieder ganz zu sich. „Ich glaube nicht,“ sagte sie matt; „nur der rechte Fuß scheint ein wenig verstaucht zu sein – ich fiel gerade unter den Wagen. Sind Sie verletzt? … Ich würde es sehr bedauern, wenn meine Ungeschicklichkeit –“

„Sprechen wir nicht davon!“ fiel Arnold ein, dem diese freundliche Zusprache das beste Wundpflaster war. „Die Hauptsache ist, daß wir uns möglichst bald in reisefähigen Stand setzen. Kommen Sie, Herr Blanchard! Helfen Sie mir den Wagen untersuchen und aufrichten!“

„Verlangen Sie nichts Unmögliches von nur!“ replicirte derselbe mit sehr dünner Stimme. „Mir zittert jedes Glied von dem Schrecke. Welche Gefahr –! Nicht für mich, mein Herr, das war das Wenigste; aber für meine einzige Tochter – Juliette hätte von dem schweren Wagen erdrückt werden können! O, wenn ihre Mutter wüßte …“

„Wir werden noch Zeit genug haben, alle möglichen Folgen dieses bösen Sturzes durchzusprechen,“ unterbrach der junge Mann. „Declamiren wir jetzt nicht, handeln wir! Schwerlich werden Sie die Nacht unter freiem Himmel zubringen wollen. Folgen Sie mir!“

Er stellte sich seitwärts gegen die Böschung und ließ sich mit dem losen Erdreiche in den schlammigen Graben hinabgleiten. Aber Blanchard rührte sich nicht. „Hierher, mein Kind, hierher!“ rief er ängstlich, „setze Dich auf diesen Stein! Dein Fuß ist verletzt … o, o, o! Schone ihn! So! Ich bleibe bei Dir – es ist ja meine Pflicht. Herr Rose wird die Güte haben, den Wagen wieder auf den Damm zu bringen. Nicht wahr, Herr Rose? In Deinem ganzen Leben nimmst Du nicht wieder eine Leine in die Hand. Nun – wie steht's, Herr Rose?“

Arnold, der nicht mehr auf Beistand rechnete, stand mit den Füßen bis über die Knöchel im Schlamme, strängte die Pferde ab und versuchte mit Aufbietung aller Kräfte, den Wagen aufzurichten. Kaum aber hatte er ihn ein wenig gehoben, so daß die Last auf die Räder zu drücken anfing, als ein Knistern und Krachen des Holzes ihn belehrte, daß eines derselben gebrochen sein müsse. Bald überzeugte er sich von der Richtigkeit dieser sehr unerfreulichen Wahrnehmung. „Das Hinterrad total zertrümmert!“ rief er hinauf. „Es ist nicht daran zu denken, den Wagen wieder fahrbar zu machen. Das Vernünftigste ist, wir lassen ihn liegen, wie er liegt.“

„Aber was soll aus uns werden?“ fragte der Kaufmann besorgt.

„Wir gehen zu Fuß, Papa,“ meinte Juliette. „Es ist mir nur leid um mein Gepäck, das da im Graben liegen bleiben muß.“

Herr Blanchard knurrte etwas von „ungewohnten Strapazen, weiter Entfernung, vorgerückten Jahren, zitternden Knieen,“ wagte aber keine laute Opposition zu erheben. „Ließe sich nur wenigstens meine kleine Handtasche auffinden,“ sprach das Mädchen, laut genug, um auch unten im Graben verstanden werden zu können. „Es ist darin das Album, in das alle meine Freundinnen sich eingeschrieben haben; es sollte mir bis an mein Lebensende ein theures Andenken sein.“ Sie stand auf, stützte sich mit der Hand auf den Stein und prüfte mit dem Fuße die Festigkeit des Gerölles. „Haben Sie da unten sicheren Grund?“ fragte sie zögernd, denn der Fuß schmerzte heftig; „ich möchte die Tasche suchen.“

„Bemühen Sie sich nicht, mein Fräulein!“ bat Rose, der wieder ganz Mildherzigkeit war; „es ist völlig genug, wenn ich mir die Stiefel voll Wasser schöpfe. Hier ist die kleine Tasche schon, leicht genug trotz aller der schweren Abschiedsseufzer in Versen und Prosa, mit denen das Album belastet ist. Geben Sie Acht! Ich werfe sie Ihnen zu.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_227.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)