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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


die schwersten Stücke auf seinem breiten Rücken wie Spielzeug die Treppe hinunter. Dann ließ er sich die Küche zeigen und begann aus den vom Proviantmeister reichlich gelieferten Lebensmitteln ein Mahl zu bereiten, so gut seine Kochkunst es verstand.

„Ich möchte nur wissen, wovon die da oben eigentlich leben, Herr Rose,“ bemerkte Kruttke einige Tage später, als er eine Fleischsuppe mit Nudeln auftrug. „Es kommt kein Fleischer und kein Bäcker in’s Haus. Herr Blanchard freilich geht aus und mag wohl irgendwo seinen Mittagstisch finden, aber die arme Frau … sie bekommt wahrhaftig nichts Warmes in den Leib und sieht schon ganz verstört aus. Ich denke mir, sie könnt’s nicht übel nehmen, wenn wir ihr einmal einen Teller Suppe anbieten möchten.“

„Versuch’s einmal!“ antwortete Rose; „aber die Herrschaften sind verdammt stolz –“

„Ah! wenn man nur Hunger hat!“

„Gut! mir ist’s recht.“

„Ja – aber wie bringt man der Madam das bei, wenn man nicht Französisch sprechen kann? Deutsch versteht sie nicht.“

„Um so besser! Du bist dann außer Stande, ihre Entschuldigungen anzunehmen.“

Kruttke kratzte sich hinter’m Ohre. „Das schon, Herr Rose, aber …“

„Gut denn, so will ich Dir’s schriftlich geben.“ Er schrieb einige Worte auf eine Visitenkarte und gab sie dem braven Burschen mit, der inzwischen seinen Anzug in Ordnung gebracht und das Bärtchen, das ihm im Kriege gewachsen war, aufgestutzt hatte.

Nach einigen Minuten kam Kruttke zurück. Sein Gesicht strahlte vor Freude. Schon in der Thür rief er: „Sie hat gelacht und die Suppe angenommen, Herr Rose.“ In der Hand hielt er eine ansehnliche Tüte von weißem Papier und ein Kärtchen. „Sie hat Ihnen auch etwas aufgeschrieben, Herr Rose – da! Und zu mir hat sie recht schnakisch gesagt: ‚Monsieur Krütt, Sie sein ein kutes Mensch!‘ Und das da –“

„Was bringst Du da in der Tüte?“

„Das hab’ ich durchaus für Sie annehmen müssen, da half kein Widerstreben. Ich glaube, davon fristet die Madame ihr Leben. Na – es mag ganz gut schmecken, wenn man satt ist.“

Das Papier enthielt Biscuits und Chocoladenplättchen. Auf der Karte stand: „Marie Blanchard – bittet, sich dieses Dessert gut schmecken zu lassen.“ „Den Tausch können wir acceptiren,“ meinte Rose. „Wenn Deine Suppe nur besser gekocht wäre, Kruttke – Deine Recepte sind so entsetzlich einfach.“

Damit war nun ein Verkehr eingeleitet, und der wackere Bursche sorgte dafür, daß er nicht wieder ganz einschlief. Ihm gefiel nun einmal „die bleiche Madame“, die ihn „ein gutes Mensch“ genannt hatte, und er ließ sich’s nicht ausreden, daß sie hungern müsse. Er konnte sich überhaupt schwer vorstellen, daß Jemand noch aus anderen Gründen bleich aussehen könne, als weil ihn hungere, und sein mitleidiges Herz wurde durch nichts mehr erregt, als durch den Gedanken, daß es einem lebendigen Geschöpfe – Mensch oder Thier – an dem fehlen könne, was ihm das höchste aller Güter schien: am Sattessen. Er trug Madame Blanchard also allerhand Lebensmittel zu und suchte sich auch sonst nach Kräften nützlich zu beweisen, indem er ihr mancherlei Arbeiten abnahm, die sonst ihre Magd hätte verrichten müssen. Auf Dank dafür rechnete er schon deshalb nicht, weil sie ja „Französisch sprach“. Sie ließ sich aber auch seine Dienste gern gefallen und half ihm zum Entgelt manchmal in der Küche beim Kochen, was wieder Rose zu Gute kam. Selbst Herr Blanchard wurde freundlicher, klopfte Kruttke im Vorbeigehen vertraulich auf die Schulter und schickte auch einmal eine Flasche Wein, die Beiden trefflich mundete. Endlich glaubte Arnold die Zeit gekommen, einen Schritt näher wagen zu dürfen.

An einem Nachmittage, als er die Eheleute zu Hause wußte, klopfte er an die Thür des Salons. Herr Blanchard hielt sich freilich für verpflichtet, ein sehr verwundertes Gesicht zu zeigen und die Hand in die Weste zu stecken, wie er zu thun pflegte, wenn er imponiren wollte. Aber seine Frau bot dem Gaste doch einen Stuhl an, und Arnold ließ sich nicht so leicht einschüchtern.

„Wir sind Feinde,“ begann er. Herr Blanchard nickte. „Wir sind Feinde und haben alle Ursache, uns dessen hier vor Paris, wo uns täglich der Donner der Kanonen weckt und zu Bett begleitet, bewußt zu bleiben.“

„Paris wird nicht fallen, mein Herr,“ bemerkte der Kaufmann eifrig.

„Es hält sich so tapfer,“ antwortete der Gast verbindlich, „daß es ihm keine Schande wäre, schließlich die Thore öffnen zu müssen.“

Diese Schmeichelei schien gut aufgenommen zu werden. Herr Blanchard wiederholte zwar: „Paris wird nicht fallen,“ aber nicht mehr in jenem bissigen Tone, sondern gleichsam mit lächelnder Stimme. Es war eine Art von Brücke über den Strom geschlagen, auf der man sich einander nähern konnte, so schwankend sie sein mochte.

„Geben wir zu,“ fuhr Arnold fort, „daß unsere beiderseitige Situation nicht angenehm ist. Nun, bei einem Schiffbruche gewinnen zwei Matrosen ein Boot. Sie sind Todfeinde und messen einander mit grimmigen Blicken. Jeder kann den Anderen verderben, wenn er die Ruder über Bord wirft, aber die Folge ist leider, daß er dann ebenfalls zu Grunde geht. Was werden sie thun? Ich denke, sie rudern Beide tüchtig mit allen Kräften, um sich an’s Land zu bringen, und schlagen dann aufeinander los, wenn sie wieder festen Fuß haben. Freilich jedes Gleichniß hinkt, und das meinige ist, wie ich zugebe, recht lahm –“

Herr Blanchard nickte.

„– aber etwas lernen kann man doch daraus. Ich kann Paris nicht nehmen, und Sie können es nicht halten. Der Kampf ist für uns Beide wie ein Sturm, den wir auswüthen lassen müssen, und wir sitzen hier im Boote und haben die Wahl, ob wir uns gegenseitig ganz nutzlos am Rudern hindern, oder ob wir mit vereinten Kräften für einen erträglichen Zustand sorgen wollen.“

„Herr Blanchard strich nachdenklich sein langes Kinn. „Erklären Sie sich deutlicher!“ bat er nach einer Weile.

„Mit einem Worte: machen wir gemeinsame Oekonomie! Kruttke und ich haben, was Ihnen vielleicht oft fehlt, Lebensmittel in Fülle; die Lieferungen des Proviantmeisters sind meist gut und reichlich. Aber wir können nicht den wünschenswerthen Gebrauch davon machen. Weshalb? Weil Kruttke in der edlen Kochkunst ein sehr bescheidener und nicht einmal talentvoller Anfänger ist, der ganz unmäßig Material verschwendet, um die kleinsten Erfolge zu erzielen –“

Hier nickte Madame Blanchard zustimmend.

„Ich für meinen Theil, obgleich ich kein Kostverächter bin und auf den Kriegszustand alle billige Rücksicht nehme, bekenne doch gern, daß ich lieber gut als schlecht esse, und daß ich vor allen Dingen gern in Gesellschaft esse. Nun sitze ich freilich lieber bei Freunden als bei ‚Feinden‘ zu Tische. –“

Hier lächelten Mann und Frau einander an.

„Aber es giebt Feinde, mit denen man sich ganz gut befreundet, und es ist ja nicht gerade nöthig, daß man stets über Principien debattirt. Ich mache nun folgenden Vorschlag: alle Naturalien, die wir geliefert erhalten, wandern in Ihre Küche, meine beste Madame Blanchard. Sie übernehmen mit Kruttke’s Beistand die Zubereitung. Was wir ferner für Geld haben können, schaffen wir gemeinsam dazu; ich denke, meine Connexionen werden dabei von Nutzen sein. Herr Blanchard gestattet freundlichst, daß ich an seinem Tische Platz nehme, und hat die Güte, selbst mit uns zu speisen. Es ist ihm erlaubt, so oft es ihm beliebt, eine Flasche seines vortrefflichen Rothweins aufzustellen, wovon er sicher noch ein hübsches Lager irgendwo in der Nähe geborgen hat, und ich verpflichte mich, ihn zu trinken, ohne zu fragen, woher er kommt. Wie gefällt Ihnen dieses Arrangement?“

Die Eheleute forderten zwölf Stunden Bedenkzeit. Schon vor Ablauf derselben erklärten sie, einverstanden zu sein, allerdings unter einigen feierlichen Bedingungen seitens des Herrn Blanchard. Kruttke war seelenvergnügt, mit Madame Blanchard zusammen wirthschaften zu können, und schleppte an Eßwaaren heran, was er irgend im Proviantamte oder auf der Landstraße erhaschen konnte. Bald zeigte sich’s, daß der bissige Franzose ein ganz gemüthlicher Tischnachbar sein konnte, und seine Frau erholte sich sichtlich. Rose fühlte sich an der hübsch gedeckten kleinen Tafel „wieder als Mensch“, und schlürfte nach dem Essen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_211.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)