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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


im öffentlichen Unterrichte und in der Landesvertheidigung, und man sieht, wie sehr selbst jetzt, nach den furchtbarsten Katastrophen, die Besten und Begabtesten der Nation im Kampfe gegen die Routine sich abhetzen.

Ein anderer großer Fehler der Nation entspringt aus einer ihrer vorzüglichsten und hervorragendsten Eigenschaften. Der Franzose hat viel Geist und Witz, was er mit dem Worte „Esprit“ ausdrückt. Witz und Geist ist ihm einerlei, und er kann sich diesen kaum ohne jenen denken. Nun, der Witz ist durchaus nicht zu verachten und darf wohl, um mich mit unserem vortrefflichen Lichtenberg auszudrücken, mit zu Gerichte sitzen. Nur darf er nicht ausschließlicher Richter sein. In Frankreich ist er es aber allzu häufig; ja, er ist Richter und Scharfrichter zugleich, und man sieht leider erst nach der Hinrichtung, daß der Richter ungerecht war. Der Franzose sagt: „Le ridicule tue,“ das Lächerliche tödtet. Er hält dies für eine unbestreitbare Wahrheit. Man sucht daher in Frankreich durch einen Witz seinen Gegner lächerlich zu machen, ohne zu bedenken, daß nicht selten die Lacher, die man auf seiner Seite hat, bei Weitem lächerlicher sind, als die Gegner, die man belacht.

Der Franzose hält übrigens den „Esprit“ nicht nur für eine seiner hervorstechendsten Eigenschaften, sondern auch für eine ausschließlich französische Eigenschaft. Wenn ein Ausländer in irgend einem geselligen Kreise sich durch ein geistreiches witziges Wort bemerkbar macht, so gerathen alle Franzosen in Verwunderung. Sie rufen dann wohl: „Pas mal pour un étranger – nicht schlecht für einen Fremden“ – und wenn ihnen die gute Lebensart es verbietet, dies auszusprechen, so zeigt sich doch das Erstaunen in ihren Gesichtszügen. Das größte Lob, das der Franzose einem witzigen geistreichen Ausländer spendet, drückt er mit den Worten aus: „Il a l'esprit français – er hat französischen Esprit“ – und er hält ihn dann schon für einen halben Franzosen. Dies zeugt freilich von Eitelkeit, und der Franzose ist eitel. Indessen glaube ich, daß man diesen französischen Nationalfehler gar zu sehr übertreibt, und daß die anderen Nationen, welche den Splitter in den Augen der Franzosen sehen, den Balken in ihren eigenen Augen nicht bemerken.

Wie das Individuum nur die Eitelkeit seines Nachbars wahrnimmt und bespöttelt, seine eigene Eitelkeit aber für eine wohlberechtigte Selbstanerkennung hält, so sind auch ganze Völker bereit, ihre eigenen Vorzüge auf Kosten anderer Völker zu überschätzen, oder sich gar Vorzüge anzudichten. So war es zu allen Zeiten; so wird es zu allen Zeiten bleiben. Unter den alten Völkern hielt jedes alle anderen für Barbaren. Der Engländer glaubt, daß nur in seinem Vaterlande der wahre Gentleman zu finden, und er scheut sich nicht, dies so oft wie möglich zu behaupten. Der Deutsche spricht von deutscher Treue, als ob außerhalb Deutschlands die Treue weniger fest sei, und er spricht sogar mit besonderem Nachdrucke von der deutschen Eiche, als ob ihm diese ihr Entstehen verdanke und im Auslande die Eiche sich nicht ebenso kräftig entwickele, wie auf deutschem Boden. Man muß übrigens den Franzosen zugestehen, daß sie sich oft über ihre Eitelkeit lustig machen und auch über ihre Sucht nach glänzenden Phrasen selbst spotten. Wie dem aber auch sei und ob der Franzose auch an vielen Schwächen und Fehlern leidet, so hat man an ihm doch anzuerkennen, daß er dieselben nicht verbirgt. Er trägt das Herz auf der Zunge und Heuchelei ist seinem Naturell zuwider. Er ist auch zu gesprächig, zu leidenschaftlich, um seine Gefühle und Empfindungen verbergen zu können. Ueberhaupt betreibt er Alles mit Leidenschaft und folgt seinen heißblütigen Herzen eher, als dem besonnenen Verstande. Was sich durch große Leidenschaft vollbringen läßt, vollbringen die Franzosen wie kein anderes Volk; was aber nur durch vieljähriges bedächtiges Streben erzielt werden kann, erzielen sie weniger als andere Völker. Daher kommt es auch, daß Frankreich die Revolution von 1789 vollbracht, daß aber bis jetzt gar manches andere Volk die Früchte derselben ruhiger genießt, als Frankreich.

Offenherzigkeit ist eine hervorstechende Eigenschaft der Franzosen. Mucker und Heimducker sind unter ihnen selten, und nichts ist ihnen verhaßter als Scheinheiligkeit. Dieselbe wird auch in dem größten Meisterwerke ihres größten Dichters gebrandmarkt, welchen sie als den lebhaftesten Ausdruck ihres Nationalcharakters betrachten.

In Glaubenssachen ist der Franzose sehr tolerant, und diese Toleranz beruht weniger in seiner Ueberzeugung als in seinem Naturell. Vielleicht ist sie zum großen Theile seiner Gleichgültigkeit in religiösen Dingen zuzuschreiben. Dem sei aber, wie ihm wolle: es wird der ultramontanen Partei nicht gelingen, Frankreich in die Zustände vor 1789 zurückzuführen, und es hat sich erst vor Kurzem gezeigt, wie vergeblich sie sich anstrengt, durch mühevoll organisirte Wallfahrten nach Lourdes und Paray-le-Monial einen religiösen Fanatismus anzufachen. Die Ultramontanen reden viel von der Verjüngung Frankreichs. Sie behaupten, das französische Volk zu verjüngen, indem sie es in die Kinderwindeln stecken und am Gängelbande herumführen wollen. Sie wollen es nicht jung, sie wollen es kindisch machen. Nun, die Verjüngung Frankreichs wird nicht durch den Sieg der Ultramontanen, sondern durch den Sieg über dieselben stattfinden, und bei der großen Lebenskraft der Nation und der immer mehr wachsenden Macht der Wissenschaft ist man zu der Annahme berechtigt, daß die Niederlage nicht auf Seiten der Nation sein wird.

Eine große Toleranz zeigt der Franzose besonders im geselligen Verkehre. Wohlwollend von Natur, läßt er sich in der Unterhaltung den schroffsten Widerspruch gefallen, so lange dieser nicht durch die Form verletzt. Selbst bei der unerheblichsten Verneinung vergißt er niemals als Milderung derselben das Wörtchen „Pardon“ vorauszuschicken. Er begeht eher eine Ungerechtigkeit als eine Unhöflichkeit und erträgt auch jene ruhiger als diese.

Eine ganz besondere Nachsicht zeigt er im Verkehre mit den Ausländern, deren Sitten nicht selten mit den seinigen einen schroffen Gegensatz bilden, und diese Nachsicht macht dem Fremden den Aufenthalt in Frankreich angenehm. Der Franzose unterscheidet sich darin von dem Engländer, der manche fremde Sitten fast für Unsitten hält und kaum begreift, daß man ein anständiger Mann sein kann, ohne einen Frack zu besitzen. Ich habe in London mehrere unserer Landsleute, welche in Folge der Bewegungen von 1849 nach England verschlagen worden, in der größten Noth gesehen, weil ihnen der verhängnißvolle Frack fehlte. In Paris hingegen sah ich einst am Empfangsabende im Hause eines berühmten Gelehrten einen jungen Mann in einem dicken Flausrock und mit vernachlässigtem Bart und Gelocke. Fiel mir dies schon auf, so fand ich es noch auffallender, daß dieser Struwelpeter einen Kreis von Herren und Damen um sich gebildet hatte, die mit sichtbarem Interesse seinen Worten lauschten. Ich hörte bald, daß er ein sehr gelehrter und talentvoller Grieche sei und daß man bei seiner ungewöhnlichen geistigen Cultur die Uncultur seines Aeußern gern vergesse. Dem Franzosen imponirt nichts mehr als das Talent. In keinem Lande unseres Welttheils herrschen so wenig gesellschaftliche Unterschiede wie in Frankreich, und in keinem anderen Lande der Welt ist das Gefühl für sociale Gleichheit so lebhaft; nirgendwo aber behaupten namhafte Künstler und Schriftsteller einen solch hohen Rang wie in Frankreich. Man ist stolz darauf, sie als Gäste zu besitzen, und man betrachtet sie in allen Schichten der Bevölkerung als die wahren Größen des Landes.

Ich will nur einen Fall anführen, der die Wahrheit meiner Behauptung bezeugen mag.

Ich hatte einst einen Landsmann, einen Schriftsteller, zum Besuche. Mein Freund war von den Franzosen eben nicht eingenommen und unterließ es auch nicht, seiner herben Kritik freien Lauf zu lassen. Es war nun an einem herrlichen Märzmorgen, als wir den Weg zum Institut einschlugen, um dem Leichenzuge Halevy's beizuwohnen. Wir fanden den Leichenwagen bereits vor der Thür und hinter demselben Minister, Marschälle, Generäle, Diplomaten in glänzenden Uniformen und mit blitzenden Sternen und Kreuzen geschmückt. Eine ungeheure Menge drängte und drückte sich rechts und links auf den Quais und auf dem Pont des Arts, ohne die militärischen und diplomatischen Größen sonderlich zu beachten. Da kam ein Greis in der Akademiker-Uniform von dem rechten Seine-Ufer über die Brücke. „C'est Monsieur Auber!“ rief Alles, den Hut lüftend und zurückweichend, um dem Componisten der „Stumme von Portici“ freie Bahn zu machen.

Durch diese Scene ward mein Freund etwas milder gegen die Franzosen gestimmt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 199. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_199.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)