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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


daß wir den Respect vor fremdem Eigenthum nicht einen Augenblick verlieren; daß wir nicht zerstören, außer wo unser Zweck es gebieterisch fordert. Folgt mir!“

Unter Rose's Anführung wurden nach diesem allseitig belobten Princip die Häuser der Nachbarschaft durchforscht. Man fand nicht, was man suchte; überall schienen gerade die Betten entfernt zu sein. An der Villa, dem ansehnlichsten Hause in weitem Umkreise, war Rose bisher wiederholt vorüber gegangen, obgleich man ihn darauf aufmerksam machte, daß dort am meisten Aussicht sei, zum gewünschten Ziel zu gelangen. Man wollte nun den Grund dieser Zurückhaltung wissen, und da er keinen vernünftigen vorzubringen im Stande war, entschloß er sich endlich doch, die Cameraden durch die Gitterthür in das Gärtchen und unter die Halle zu führen.

Die Hausthür ließ sich von außen nur öffnen, wenn man sie mit der Axt einschlug. Rose, der sie geschont wünschte, deutete auf das Fenster daneben, das ein Einsteigen gestatten würde. Bald klirrten die Glasscheiben. Die Fensterflügel wurden aufgerissen; aus der Laube holte man die Stühle herbei und stellte mit ihrer Hülfe eine Art von Treppe zusammen, auf der sich ziemlich bequem das Fensterbrett erreichen ließ. Bald stand die kleine Schaar im Hausflur und verbreitete sich von da durch die unteren Räume.

Rose hatte schon bei der äußeren Besichtigung des Hauses von einer Reihe tiefliegender und vergitterter Fenster auf weite Kelleranlagen unter demselben geschlossen. Er fand auch bald die Treppe, die offenbar zu ihnen hinabführte, und einen dunkeln Corridor, in welchem jeder Schritt, wie unter einem Gewölbe, hallte. Das Auge gewöhnte sich nach einiger Zeit an die Dämmerung so weit, daß es Zugänge zu mehreren abgetheilten Räumen unterscheiden konnte. Sie enthielten aber nichts, als leere Weinlager und Stapel leerer Kisten oder Körbe von Weidengeflecht. Auf der anderen Seite des Ganges ließ sich keine Thür entdecken, und doch mußten sich die Keller hier aller Wahrscheinlichkeit nach fortsetzen. Rose trug ein kleines Wachslicht bei sich und zündete es an. Wie er nun damit die Wand entlang leuchtete, zeigte sich eine fast quadratische Stelle dunkler gefärbt. Die Feuchtigkeit ließ nicht zweifeln, daß hier frischer Kalk aufgetragen war, und die Spuren der eiligen Arbeit bedeckten auch den Boden. „Hierher, Freunde!“ rief der glückliche Entdecker die Treppe hinauf, „ich weiß zwar noch nicht, was wir haben, aber dahinter steckt jedenfalls etwas. Man pflegt in Kriegszeiten keine Thür zu vermauern, wenn man nicht etwas Werthvolles zu verbergen hat, und hier hat ganz kürzlich ein Maurer gewirthschaftet. Alle Mann heran!“

Bald setzten sich viele Hände in Bewegung, den Kalkbewurf abzuklopfen und mit Taschenmessern die Fugen zwischen den Ziegeln zu erweitern. Der eiserne Stiel einer Kaminschaufel diente als Brechstange, und schneller, als der Handwerker seinen Verschluß bewirkt haben konnte, öffnete sich wieder die Thür. Ein gewandter Turner schlüpfte durch die Bresche und schlug innen eine laute Lache an. „Da finden wir gerade, was wir brauchen,“ rief er den eifriger das Ziegelwerk abräumenden Cameraden zu. „Matratzen, Betten und Decken genug für ein großes Feldlazareth!“

Er hatte Recht. Der ganze Raum war damit bis zum Gewölbe hinauf angefüllt. Offenbar hatte nicht nur Herr Blanchard seinen Besitz an solchen Gegenständen hier zu sichern gesucht, sondern auch die übrige Bewohnerschaft des Ortes den ihrigen hierher zusammengetragen. In zwei benachbarten Kellern lagerte Wein in Fässern und Flaschen. Auch Vorräthe von Gemüsen, Mehl, Schinken und Würsten fanden sich in einem Holzverschlage. In der freudigsten Erregung nahm man Besitz von diesen Schätzen, brach sofort einigen Flaschen den Hals und dankte Rose, der doch wieder „der Schlauste gewesen sei“.

„Nun aber ein ordnungsmäßiges Verfahren!“ commandirte derselbe. „Geht das so weiter mit dem Zechen, so finden wir uns am Ende nicht wieder aus dem Keller hinaus. Requiriren wir zwangsweise, so viel uns nöthig und gut scheint, aber legen wir dem Wirth über das Entnommene gehörig Rechnung. Hier ist ein Zettel und eine Bleifeder; schreiben wir Stück für Stück auf, und dann mag das Blatt als Quittung zurückbleiben.“

Man hatte sich gewöhnt, seinen immer verständigen Weisungen zu gehorchen, und so war denn auch jetzt bald das Geschäft des Ausräumens organisirt. Ein zweiräderiger Karren, den man in einem Fleischerladen gefunden hatte, erleichterte den Transport der Sachen nach dem Fabrikgebäude. Dort gab der Chirurg weitere Anordnungen wegen der Unterbringung.

Arnold Rose konnte die Genossen allein weiter wirthschaften lassen. Eine unbezwingliche Neugierde trieb ihn an, die Villa, die ihm gestern im Mondlichte fast wie ein verzaubertes Schloß erschienen war, näher in Augenschein zu nehmen. Die unteren Räume boten nichts Bemerkenswerthes: der Herr des Hauses, der ein Kaufmann sein und in der Stadt sein eigentliches Comptoir haben mochte, hatte hier einige Geschäftszimmer nur mit dem nothdürftigen Mobiliar besetzt, während sich auf der andern Seite des Flurs die Küche, die Mägdestube und verschiedene Wirthschaftsgelasse befanden. Die Wohnung selbst mußte im obern Stocke liegen, und dorthin führte eine zierliche Treppe mit eisernem Geländer von bester Gußarbeit. Rose bedachte sich nicht, sie zu besteigen. Der obere Flur war mit Bildwerken ausgestattet. Da hing der erste Napoleon, und der dritte und Eugenie und der kleine Lulu in Corporalsuniform, als wär's dem Besitzer des Hauses darauf angekommen, sich jedem Eintretenden sogleich als ein guter Patriot zu beweisen. Geradeaus öffnete sich eine Flügelthür von braunem Holze nach einem geräumigen Salon, der mit dem Balcon Zusammenhang hatte; rechts und links sah man durch Portièren von blaßgrüner Farbe in ein Wohn- und ein Speisezimmer mit der entsprechenden sehr eleganten Ausstattung. Daran schlossen sich Cabinete, deren eines die kleine Bibliothek und eine Marmorbüste des Corneille beherbergte; weiter folgten zierlich möblirte Schlafräume und Garderobekammern. Ueberall war das Parquet spiegelblank, hingen Glaskronen und Ampeln von mattgeschliffenem buntem Glase an den Decken herab, bedeckten Oelgemälde in breitem Goldrahmen und Stahlstiche die Wände, standen kostbare Pendulen auf den Kamingesimsen, kleine Statuetten, Vasen und allerhand Nippessachen auf den Tischen und Schränken. Arnold hatte bei seiner langsamen Wanderung durch die Zimmer Zeit, sie einzeln zu betrachten.

In der Wohnstube neben dem Salon stand ein Damenschreibtisch von geschmackvollster Form, ganz beladen mit Albums, Mappen, zierlichen Schreibmaterialien, kleinen Figuren von Porcellan und Bronze, Schmuckschälchen von polirtem Steine und Kästchen von Metallguß mit hübschen Reliefs. Arnold sah nur flüchtig darüber hin. Ihm fiel sogleich ein Gestell von vergoldeter Bronze in die Augen, in welchem eine kleine Photographie Platz fand. Er schob den Lehnstuhl ein wenig zurück, setzte sich darauf und besichtigte es näher, nahm es in die Hand, hielt es in verschiedener Richtung gegen das Licht, um dem Bilde die günstigste Beleuchtung zu gewähren, benutzte eine Lupe, die auf dem Schreibzeuge lag, dieselbe in näherer und weiterer Entfernung von seinem Auge prüfend, und schien sich von dem Gegenstand gar nicht trennen zu können. Die Photographie zeigte das Bild eines jungen Mädchens in halber Figur und war schwerlich besser, als Darstellungen dieser Art gewöhnlich zu sein pflegen, es hätte denn der lebhafte Ausdruck des interessanten Gesichtchens auf Rechnung des Künstlers gesetzt werden müssen. Aber diese Augen! Sie schienen wirklich aus dem Bilde herauszusehen und dem Beschauer zuzulachen. So viel natürliches Leben erinnerte Arnold sich nicht schon jemals auf einer Photographie bemerkt zu haben. In wie glücklicher Stimmung, dachte er, hat dieses reizende Kind dagesessen, um sich von der Sonne portraitiren zu lassen! Womit beschäftigte sich während dessen dieses Köpfchen? War das Bild der geliebten Mutter bestimmt und sollte es ausdrücken, wie lieb das Töchterchen sie habe und wie es immer wünsche, sie an die heitersten Momente ihres Beisammenseins zu erinnern? Oder war nicht die Mutter gemeint? Gehörte das Bild einem Andern und war dies gleichsam nur eine Copie? Wer war der Erste, der sich darüber freute, darüber freuen sollte? Wer hatte dem hübschen Mädchen gesagt, daß ihm diese Haltung, diese Viertelwendung gegen das Licht besonders günstig sei, daß so aus dem Schatten heraus diese hellen Augen noch heller lachen würden? Der Spiegel vielleicht?

Nein, kein Gedanke daran! Keine Spur von Coquetterie war bei genauerer Betrachtung zu entdecken. Es war nichts an dem Bilde erkünstelt. Diese Augen konnten gewiß auch sehr schwermüthig blicken, diese Stirn unter den krausen Löckchen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_191.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)